Herr Kruglanski, Sie betrachten ein „Ungleichgewicht der Bedürfnisse“ als Ursache für ein extremes Verhalten. Was ist damit gemeint?
Im Normalfall sind unsere Bedürfnisse, ob physiologisch oder psychologisch, in einem gewissen Gleichgewicht – wir essen, trinken, sind im Kontakt mit anderen. Manchmal aber wird ein Bedürfnis dominant. Nehmen Sie als Beispiel den Hunger. Wenn wir sehr hungrig sind, kann dieses Bedürfnis übermächtig werden und unser gesamtes Verhalten steuern. Alle anderen werden dadurch schwächer und treten in den Hintergrund. Genauso verhält es sich auch mit unseren psychologischen Sehnsüchten nach Respekt, Würde, Wichtigkeit, Bindung, Sicherheit oder Freiheit. Eines davon kann so mächtig werden, dass eine Person nur nach dessen Erfüllung strebt und alles andere links liegen lässt. Unsere Forschung zeigt: Extremem Verhalten jeder Ausprägung liegt ein Ungleichgewicht der Bedürfnisse zugrunde. Das belegen Untersuchungen mit Arbeitssüchtigen, Internetsüchtigen oder Extremisten und Extremistinnen. Aber auch Berichte von Extremsportlerinnen oder Künstlern zeigen das.
Wie kann es dazu kommen, dass das Gleichgewicht der Bedürfnisse so stark aus den Fugen gerät?
Prinzipiell kann es jedem passieren, der Mechanismus ist universell. Natürlich gibt es individuelle Unterschiede. Ausgelöst werden kann die Dominanz eines einzigen Bedürfnisses prinzipiell durch einen ausgeprägten Mangelzustand, etwa sehr großen Hunger, oder durch einen starken Anreiz von außen, etwa großen Erfolg von anderen, den wir uns auch für uns wünschen.
Sie unterscheiden zwischen Bedürfnissen und Zielen – warum?
Ein Ziel lässt sich erreichen: Sie können eine Prüfung machen, dann ist sie beendet. Sie können einen Text schreiben, dann ist er fertig. Ein Bedürfnis ist nie wirklich ganz befriedigt, immer nur für eine relativ kurze Zeit. Es kann aber ein Anlass dafür sein, sich ein Ziel zu suchen und es zu erreichen.
In Ihrem Forschungsartikel zitieren Sie viele Beispiele, die zeigen, dass Sucht die Folge eines Ungleichgewichts ist. Welcher Mechanismus steckt dahinter?
Die Frage ist, warum ich rauche, welches Bedürfnis ich mir damit erfülle. So kann das Rauchen mit einem sozialen Bedürfnis beginnen, etwa wenn ich anderen gegenüber selbstsicher erscheinen will und mir dann eine Zigarette anzünde. Das Knifflige bei einer Sucht ist, dass dann das Rauchen zur Gewohnheit wird. Je länger wir es tun, desto schwieriger wird es, aufzuhören. Bei einer Sucht gibt es nachweislich Veränderungen im Gehirn, die unempfindlich für alles andere machen und einen nur noch nach der Droge streben lassen. Aber entscheidend für die Entstehung sind die sozialen Prozesse und Narrative, die das extreme Verhalten befeuern und steuern. Auch Ideologien können solche Narrative sein, wenn sie ein verlockendes Versprechen enthalten, das helfen könnte, zum Beispiel die nicht erfüllte Sehnsucht nach Bedeutsamkeit zu stillen.
Arie W. Kruglanski u.a.: On the psychology of extremism: How motivational imbalance breeds Intemperance. Psychological Review, 2020. DOI: 10.1037/rev0000260
Arie W. Kruglanski ist Sozialpsychologe und Seniorprofessor an der University of Maryland. Er ist Autor und Ko-Autor mehrerer hundert Fachartikel und zahlreicher Bücher und erhielt für seine Forschung in mehreren Ländern Auszeichnungen, auch in Deutschland