Herr Kanske, zur Empathie gibt es umfangreiche psychologische Forschung. Nun stellen Sie ein neues Modell dazu vor. Warum?
Wir möchten zeigen, dass zwei übergeordnete Netzwerke im Gehirn existieren. Das eine ist aktiv, wenn wir uns einfühlen, also emotionale Empathie zeigen. Das andere springt an, wenn wir gedanklich die Perspektive einer anderen Person einnehmen, uns eine Theory of Mind des anderen konstruieren – manche sprechen hier auch von kognitiver Empathie. Viele psychologische Experimente befassen sich entweder nur mit Empathie oder nur mit der Fähigkeit, gedanklich die Perspektive anderer zu übernehmen. Wir integrieren diese Forschungsergebnisse in einer Metaanalyse über 188 Studien zu einem Modell, das zeigt, dass es einerseits zwei verschiedene soziale Fähigkeiten sind, für die jeweils ein eigenes Netzwerk plus diverse „Subnetzwerke“ benötigt werden. Und dass andererseits diese Netzwerke eng zusammenarbeiten, wenn es nötig ist.
Sie haben Ihre Probandinnen und Probanden in die MRT-Röhre gesteckt. Wie hat man sich diese Untersuchung genau vorzustellen?
In einer eigenen Vorstudie haben wir mehr als 180 Frauen und Männer untersucht. Während sie in der Röhre lagen, haben sie Ohrstöpsel getragen und sich Videos mit Episoden aus dem Alltag angesehen, die entweder sehr emotional waren oder neutral und die entweder eindeutige Botschaften hatten oder solche, die man sich erschließen muss. Wir haben aufgezeichnet, was in ihren Gehirnen passierte.
Was können Sie auf diesen Aufnahmen sehen?
Wenn wir uns einfühlen oder eindenken, brauchen die dabei aktiven Nervenzellen sauerstoffreiches Blut, das die Blutgefäße verbreitert. Den dadurch möglichen Zustrom des sauerstoffreichen Bluts kann man auf den Aufnahmen sehen.
Wann brauchen wir beide Netzwerke?
Es gibt besonders fordernde und komplexe Situationen. Wenn etwa jemand weint und sehr aufgeregt ist und gleichzeitig etwas verworren erzählt, worum es geht, dann brauchen wir beide Netzwerke, um uns einzufühlen und zugleich die Geschichte zu verstehen. Das ließ sich auf unseren Bildern sehen: Waren die Botschaften in den Videos emotional und mehrdeutig, so waren die Gehirnzellen stärker aktiv als bei neutralen und eindeutigen Inhalten.
Sie sagen, Empathie sei verwandt mit emotionaler Ansteckung. Was bedeutet das?
Emotionale Ansteckung hat mit Empathie gemein, dass wir die Gefühle anderer teilen. Wir gehen aber davon aus, dass wir uns im Klaren darüber sind, dass ein anderer der Ursprung dieser Gefühle ist. Kleine Kinder teilen die Gefühle ihrer Eltern oder anderer Menschen, aber ihnen fehlt dieses Bewusstsein über den Ursprung der Emotion. Die Übergänge sind natürlich in der Realität fließend. Empathisch sein heißt also auch, wir sind fähig, die eigenen Gefühle für eine Weile zu unterdrücken, um uns auf andere zu konzentrieren. Umgekehrt gilt: Wir können Empathie unterdrücken, wodurch andere uns gleichgültiger werden.
Philipp Kanske ist Professor für klinische Psychologie und behaviorale Neurowissenschaft an der TU Dresden und Research Associate am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig
Matthias Schurz u.a: Toward a hierarchical model of social cognition: A neuroimaging meta-analysis and integrative review of empathy and theory of mind. Psychological Bulletin. DOI: 10.1037/bul0000303