„Kinder sind Versuchsobjekte.“

Psychopharmaka werden an Kinder und Jugendliche Pi mal Daumen ausgegeben. Es fehlt an Wirksamkeitsstudien und Monitoring; das stört Jana Hauschild.

Die Illustration zeigt die freiberufliche Journalistin und Psychologin, Jana Hauschild, die stört, dass Kinder Versuchsobjekte sind
Jana Hauschild ist freiberufliche Journalistin und Psychologin. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Immer mehr Kinder und Jugendliche bekommen immer mehr Psychopharmaka verschrieben. Das ergab eine Analyse von Verschreibungen unter den 12- bis 17-Jährigen, die bei der AOK versichert sind. Das Klinikum Nürnberg hatte die Daten von 2015 bis 2023 verglichen und ausgewertet. Über den Befund sollte man sich aufregen. Das wirklich Irritierende an der Gabe von Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter ist meines Erachtens aber nicht, dass sie gegeben werden, sondern auch wie.

Für die Psychopharmakotherapie von Erwachsenen gibt es seit 2004 eine Leitlinie zum sogenannten Drugmonitoring. Unter dem Begriff versteht man, dass Blutwerte der Patientinnen und Patienten stetig überprüft werden, um eine Vergiftung durch die Arznei zu vermeiden und zugleich einen Medikamentenspiegel im Blut zu erreichen, der wirksam ist. In dem heute 49-seitigen Dokument wird für mehr als 150 Medikamente geregelt, wie man das am besten überprüft, welche Werte positiv sind und welche als toxisch gelten, also mitunter lebensgefährlich sein können. Denn die gleiche Tablette wirkt bei jedem anders, je nachdem wie der eigene Stoffwechsel ist oder auch der Körperbau.

Psychopharmaka bei Kindern: andere Wirksamkeit, andere Schwellen

Für Kinder braucht es bei zahlreichen Medikamenten also nicht nur andere Werte für deren Wirksamkeit, sondern auch andere toxische Schwellen. Tatsächlich gab es die bislang so gut wie gar nicht. In der ersten Version der Drugmonitoring-Leitlinie wurden Kinder viermal erwähnt, in der aktuellen Version geschieht das immerhin schon an 21 Stellen. Unter anderem in einer Passage, in der die Autoren erklären, dass „therapeutische Referenzbereiche der meisten Neuropsychopharmaka“ auf Studien basieren, die bei Erwachsenen durchgeführt wurden, und man aus den Befunden keinesfalls einfach auf die Behandlung jüngerer Patientengruppen schließen kann. Psychiaterinnen und Psychiater haben folglich viele Mittel jahrzehntelang mehr oder weniger nach eigenem Ermessen Heranwachsenden verabreicht.

Für Altersgruppe nicht zugelassene Medikamente

Dazu kommt, dass ein Großteil der Medikamente, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verschrieben werden, für diese Altersgruppe offiziell nicht zugelassen sind, weil es an Wirksamkeitsstudien mit jungen Menschen fehlt. Diese sogenannten Off-Label-Me­dikamente bringen nicht nur die Herausforderung mit, die richtige Dosis zu finden, sondern bergen erst recht das Risiko unbekannter Nebenwirkungen.

Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im September 2024 wurde verkündet, dass es in Kürze zum allerersten Mal eine gesonderte Leitlinie dafür geben soll, wie die Medikamente bei Kindern und Jugendlichen verabreicht und ihre Wirksamkeit sowie Toxizität überprüft werden sollten. Dass es 2024 werden musste, um solch eine schützende Leitlinie auch für die Therapie von Kindern und Jugendlichen zu schaffen, womit Mediziner psychoaktive Wirkstoffe mit massiven Nebenwirkungsprofilen künftig nicht mehr Pi mal Daumen geben müssen, ist beschämend.

Jana Hauschild ist freiberufliche Journalistin und Psychologin. Sie schreibt regelmäßig für Psychologie Heute, die Süddeutsche Zeitung und Stiftung Warentest.

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