Frau Hubermann, wie können Eltern zwischen Stimmungsschwankungen beziehungsweise negativen Gefühlen und einer depressiven Verstimmung bei Teenagern unterscheiden?
Das ist eine Herausforderung, da vorübergehende Stimmungsschwankungen, Gereiztheit und andere depressive Symptome auch Teil und Ausdruck der Pubertät sind. Wut, Trauer und Frust dürfen natürlich sein, und wir brauchen diese Gefühle, um negative Erlebnisse zu überwinden. Deshalb wird bei der Diagnostik von depressiven Verstimmungen die Dauer von negativen Gefühlen berücksichtigt.
Eine depressive Verstimmung zeigt sich durch mindestens zwei Symptome über mindestens zwei Wochen, wie zum Beispiel gedrückte Stimmung in einem ungewöhnlichen Ausmaß oder aber wenn man das Interesse an Aktivitäten verliert, die zuvor Spaß gemacht haben. Auch ein verminderter Antrieb oder schnelle Ermüdung können Symptome sein. Noch deutlicher erkennbar ist eine depressive Verstimmung an einem schlechten Selbstbild, also sich wertlos zu fühlen, keine Zukunftsperspektiven zu haben, auffälligen Veränderungen in Schlaf- und Essgewohnheiten oder daran, schwer Entscheidungen treffen zu können. Genauso können andauerndes Grübeln beziehungsweise das Gefühl, aus einer negativen Gedankenspirale nicht mehr herauszukommen, ein alarmierendes Signal sein.
Was raten Sie Eltern, die vermuten, dass die Symptome ihrer Kinder auf eine ernste psychische Störung hindeuten?
Eltern tragen den Verdacht einer psychischen Störung lange mit sich herum, oft hält ein Schamgefühl sie davon ab, diesen Verdacht mit jemandem zu besprechen. Zu sehr fürchten sie, verurteilt zu werden. Leider berichten mir viele Eltern, dass ihnen gesagt wurde, dass sie schuld seien an der Symptomatik ihres Kindes. Solche Reaktionen ärgern mich sehr.
Wir brauchen noch mehr Aufklärung und Verständnis für das Thema Depression innerhalb der Gesellschaft. Hilfe holen ist der erste und wichtigste Schritt, um einer chronischen Depression bei jungen Menschen vorzubeugen. Doch wenn die Angst vor Verurteilung größer ist, bleibt diese dringend benötigte Hilfe aus.
An wen können sich Eltern wenden, die in Sorge um ihre Kinder sind?
Kinderärzte oder Hausärztinnen kennen die Jugendlichen oft über viele Jahre, es herrscht ein vertrauensvolles Verhältnis. Hier können dann weitere Schritte wertschätzend und offen besprochen werden. Man kann sich auch an Kinder- und Jugendpsychiaterinnen oder -psychotherapeuten wenden. Bedauerlicherweise gibt es zu wenig freie Termine und es muss hier mit langen Wartezeiten gerechnet werden. Manche Eltern lassen sich davon abschrecken. Ich empfehle immer, dass die Familien sich auf mehrere Wartelisten setzen und immer wieder nachfragen sollten. Außerdem gibt es Gruppenangebote, zum einen für Eltern, die entlastend wirken, weil Eltern da erleben, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind, aber auch Gruppenangebote für Jugendliche, die hier mithilfe einer professionellen Begleitung unter ihresgleichen in den Erfahrungsaustausch gehen. Nachdem ein professionelles Helfernetz für den Therapiebedarf entstanden ist, rate ich in der Regel auch, die Schule zu informieren. Eine Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern ist für die betroffenen Jugendlichen entlastend und ermöglicht weitere Interventionen, die einer depressiven Verstimmung entgegenwirken können. Aber meine wohl wichtigste Empfehlung ist, dass Eltern sich selbst Unterstützung suchen und für sich eine ritualisierte Selbstfürsorge in den Alltag einbauen.
Melanie Hubermann ist systemische Therapeutin für Familien-, Paar- und Einzeltherapie und New Authority-Trainerin.
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Melanie Hubermanns Buch Teenage Blues. Was Eltern bei depressiven Verstimmungen ihrer Kinder tun können ist bei Beltz erschienen (222 S., € 22,-)