„Angst war die Überschätzung einer Bedrohung und die Unterschätzung der eigenen Fähigkeit, diese Bedrohung bewältigen zu können.“ So definiert Thorsten Glotzmann das Gefühl, das ihn – beziehungsweise seinen Protagonisten Herrn G. – seit seiner behüteten Kindheit in der süddeutschen Mittelschicht begleitet. Herr G. kann seine Wohnung nicht verlassen, ohne mehrmals zu kontrollieren, ob die Tür abgeschlossen ist, fürchtet bei jeder Regung in seinem Körper eine lebensbedrohliche Krankheit und verliert sich im doomscrolling über Krieg, Pandemie und Klimakrise.
Doch Glotzmanns Alter Ego will sich nicht der Angst unterordnen und begibt sich auf eine Heldenreise: Er sucht nach Ursachen und Gegenmitteln.
Der dreijährige Neffe als Lehrmeister
Während seines Philosophiestudiums malt sich Herr G. auf Rat der Stoiker Worst-Case-Szenarien aus und findet in Søren Kierkegaard einen Seelenverwandten. Von diesem lernt er nämlich, dass Angst vor allem ein Resultat des freien Willens und der unzähligen Entscheidungsmöglichkeiten des Menschen ist, wovon sich Herr G. – wie die meisten Millennials – sofort ertappt fühlt.
Überraschend kurz ist das Kapitel, in dem der Protagonist eine Verhaltenstherapie macht. Der eigentliche Goldstandard gegen seine Diagnose – generalisierte Angststörung – bringt ihm lediglich eine leichte Linderung und die Fähigkeit, den Kontrollzwang einfach mal auszuhalten, statt ihm nachzugeben. Sehr viel hilfreicher sind für ihn Ausdauersport, Musik und Geschichten über Nahtoderfahrungen. Mitunter das wirksamste Mittel gegen die Angst ist für ihn das Konzept der Ego-Auflösung, das ihm erstmals in den Texten von Arthur Schopenhauer, vor allem aber in seiner buddhistischen Meditationspraxis begegnet. Den größten Lehrmeister findet Herr G. in seinem dreijährigen Neffen. Denn für diesen gibt es nichts als das Hier und Jetzt, und die Spielenachmittage gleichen tiefen Achtsamkeitsmeditationen.
Der Journalist, Autor und Regisseur Thorsten Glotzmann nimmt in seiner ersten Buchveröffentlichung eine humorvolle Distanz zu seiner Figur Herr G. – und damit zu sich selbst – ein. Herr G. hat Angst wird durch die lockere Sprache trotz der Informationsdichte und der ernsten Thematik zu einer unterhaltsamen Lektüre.
Obwohl der Text eine sehr persönliche Geschichte erzählt, sind viele der Erfahrungen und Erkenntnisse so universell, dass er nahezu Handbuch-Charakter annimmt. Zwar findet Glotzmann kein Patentrezept und wird die Angst auch nicht vollständig los, doch die Rüstung, die er sich als „Ritter von verängstigter Gestalt“ anlegt, wird robuster – und vielleicht auch die der Leserinnen und Leser.
Thorsten Glotzmann: Herr G. hat Angst. Und macht sich auf eine Reise durch Philosophie, Wissenschaft und Spiritualität. Berlin 2024, 304 S., € 22,–