Handy-Alarmismus?

Ist es möglich, Kindern ein gesundes Aufwachsen in virtuellen Zeiten zu ermöglichen? Jonathan Heidt behandelt Risiken digitaler Medien in seinem Buch.

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 11/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezesionen aus der Novemberausgabe. © Psychologie Heute

Spüren Sie oft den Impuls, ein Smartphone an die Wand zu schmettern? Denken Sie wehmütig an die Zeit vor dem Smartphone zurück? Jonathan Haidts wichtige, geradezu schockierende Warnschrift Generation Angst verstärkt diese Gefühle. Der Professor für Sozialpsychologie an der New York University zeigt, dass die Einführung des Smartphones „die schnellste Verbreitung einer Kommunikationstechnologie in der Geschichte“ war und sich besonders auf die Psyche Minderjähriger verheerend auswirkte.

In seinen Augen führte die überbehütende Erziehung seit den 1990er Jahren zu einem schleichenden Anstieg psychischer Probleme bei Heranwachsenden. Doch erst Smartphones und soziale Medien in den 2010er Jahren bewirkten eine „beispiellose Transformation“. Die „große Neuverdrahtung der Kindheit“ führte zum „größten unkontrollierten Experiment, das die Menschheit jemals mit ihren Kindern durchgeführt hat“, so Haidt.

Ängstlicher, depressiver, suizidaler

Jonathan Haidts Argumentation besticht durch Einfachheit. Zunächst belegt er eine dramatische Zunahme an Depressionen wie auch Angststörungen zwischen 2010 und 2020 bei Teenagern und jungen Erwachsenen in den USA. Außerdem gab es einen deutlichen Anstieg bei ADHS, Bipolarität, Anorexie, Süchten und Schizophrenie. Oder werden vielleicht nur mehr Diagnosen gestellt, weil die junge Generation Z eher Hilfe sucht? Dagegen spricht ein steiler Anstieg an Suiziden und Selbstverletzungen. Zudem bespricht Haidt Studien aus Kanada, England, Irland, Australien, Neuseeland sowie Skandinavien, die eine besorgniserregende Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Teenagern im gleichen Jahrzehnt dokumentieren.

Nun zeigt Haidt, wie rasant und radikal Smartphones, Social-Media-Apps und schnelles Internet den Lebensalltag veränderten. Smartphones seien „der größte Einzelfaktor für die Flutwelle psychischer Erkrankungen bei Heranwachsenden“ in den 2010er Jahren. Die meisten Teenager konnten sich nun überall und jederzeit in virtuellen Welten verlieren, die von Großunternehmen immer verführerischer gestaltet wurden, um die Aufmerksamkeit so lange und intensiv wie möglich zu fesseln. „Die erste Generation, die mit Smartphones durch die Pubertät ging, wurde ängstlicher, depressiver und sui­zidaler.“ Es war die „Geburtsstunde der smartphonebasierten Kindheit“.

Die Entwicklungspsychologin Candice Odgers hat eine lesenswerte Kritik an Haidts Buch für Nature verfasst: The great rewiring: is social media really behind an epidemic of teenage mental illness?. Sie zeigt, dass viele Studien nur leichte Wirkungen von sozialen Medien auf die Psyche Heranwachsender finden, nur wenige fänden starke Effekte. Haidt bespricht jedoch zahlreiche Studien, die vielfältige negative Auswirkungen des Internets belegen. Möglicherweise erklärt eine kumulative Wirkung die psychische Katastrophe in den 2010er Jahren, für die Odgers keine Alternativerklärung bietet.

Massenbewegung in die virtuelle Welt

Haidt belegt, dass die Allgegenwart virtueller Welten zu Ausgrenzung, Zerstreutheit, Schlaf- und Selbstwertmangel, Sinnlosigkeit und Sucht führt. Er zeigt, dass viele Mädchen an den völlig unrealistischen Schönheitsidealen auf Instagram und Snapchat zerbrechen. Jungen leiden oft an Spiel- und Pornosucht. Zudem verweist er auf die große Bedeutung des gemeinsamen abenteuerlichen Freispiels für Kinder und Jugendliche. Er zeigt, dass die Erziehung in den USA, in Kanada und England seit den 1990er Jahren „intensiver, beschützender und furchtsamer wurde“. Die Zeit, die Kinder nach der Schule mit Freundinnen und Freunden verbrachten, sank zwischen 1990 und 2010 erst langsam, danach schneller.

Gegen Jonathan Haidts These, dass die „Helikoptererziehung“ die zweitwichtigste Ursache für das Leiden der Heranwachsenden sei, spricht jedoch, dass keine seiner Grafiken zu deren psychischen Problemen vor 2010 auffällige Aufwärtstrends zeigt. Plausibel ist hingegen, dass die Überbehütung „die Massenbewegung von der wirklichen in die virtuelle Welt“ beschleunigte.

Haidt fordert, das Mindestalter für Internetverträge auf 16 Jahre anzuheben und Unternehmen stärker zu regulieren. Er empfiehlt viel weniger Bildschirmzeit, smartphonefreie Schulen, mehr Freispiel mit minimaler Aufsicht, mehr Abenteuer- und Naturspielplätze. Diese Reformvorschläge wirken angesichts der massiven Krise moderat. Aber Gesetze und Regeln können eben den nötigen Kulturwandel nur unterstützen.

Jonathan Haidt: Generation Angst. Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen. Aus dem Amerikanischen von Monika Niehaus-Osterloh und Jorunn Wissmann. Rowohlt 2024, 448 S., € 26,–

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