Wir sind alle Perfektionistinnen und Perfektionisten – mehr oder weniger. Perfektionismus ist eine Charaktereigenschaft und dominant in unserer Alltagskultur. Das sei nicht immer so gewesen, meint der Soziologe Heinz Bude: „Früher sagte man: Ich bin, der ich bin. Heute denkt man: Ich bin, der ich sein könnte.“
Drei Bücher nähern sich dem Phänomen mit unterschiedlichen Annahmen: Margaret Robinson Rutherford macht Perfektionismus für eine perfekt versteckte Depression verantwortlich, Katherine Morgan Schafler sieht dagegen in ihm in erster Linie eine „Superkraft“ und für Thomas Curran ist er ein gesellschaftlicher Zwang.
Die perfekt versteckte Depression
Robinson Rutherford, Psychotherapeutin in eigener Praxis in Arkansas, zeigt, dass sich hinter einem ausgeprägten Perfektionismus nicht selten eine Depression versteckt. Charakteristisch sei ein starkes Verantwortungsgefühl, ein Mangel an emotionaler Nähe und gleichzeitig eine übermäßige Sorge um andere. Dass sie depressiv sind, würden Menschen mit dieser Struktur nicht erkennen, denn sie fühlten sich nicht traurig oder energiearm, sondern eher aktiv, rational und extrem durchorganisiert. Die Autorin beschreibt, wie sich eine perfekt versteckte Depression – die perfectly hidden depression – ausdrückt, wodurch sie hervorgerufen wird, was sie von einer „klassischen Depression“ unterscheidet und was man dagegen tun kann.
Das Buch wirkt glaubwürdig, denn es ist auch ein Bericht über die Selbstheilung der Autorin. Es gelte, zu neuer Selbstliebe und Akzeptanz zu finden. Dazu müsse man Zugang zu seiner Innenwelt finden. Die Therapeutin versteht sich als Vermittlerin. Ein lehrreiches Buch, das allerdings die gesellschaftlichen Zusammenhänge ausblendet.
"Tu weniger, dann geht mehr."
Dagegen sieht Katherine Morgan Schafler im Perfektionismus in erster Linie eine „mächtige Energie“, die uns bei der Entfaltung unseres Potenzials helfe. Sie bestreitet nicht, dass es auch krankmachende Aspekte gibt, glaubt aber, dass man Perfektionismus in eine positive Richtung lenken könne.
Die Psychotherapeutin mit eigener Praxis in New York bemerkt, dass gegen Frauen häufig ein unberechtigter Perfektionismusvorwurf erhoben werde. Sie stünden dann in dem Ruf, verspannt und anstrengend zu sein. Dagegen würden männliche Perfektionisten wie etwa Steve Jobs als Genie gepriesen. Die Autorin stellt verschiedene Ausprägungen des Perfektionismus vor, sie destilliert fünf Typen heraus und zeigt Verhaltensstrategien auf, wie etwa „Tu weniger, dann geht mehr“. Sie betont, dass die Typisierungen auf ihren eigenen Erfahrungen und Sichtweisen beruhen. Ihr Buch liegt voll im Selbstoptimierungstrend. Demnach reicht gut zu sein nicht mehr aus. Das Ziel ist, besser zu sein.
Man hört nur die Erfolgreichen
Dieses Denken nennt Thomas Curran den „neuen Zeitgeist schlechthin“. Der britische Sozialpsychologe, der interdisziplinär arbeitet, versteht es, sein Wissen und seine Erkenntnisse auch für Laien gut verständlich aufzubereiten. Er beschreibt, was Perfektionismus ist, wie man ihn erkennt und was wir tun können, um ihm zu entkommen. Für ihn ist er in erster Linie eine Geisteshaltung und erst dann ein Persönlichkeitsmerkmal.
Der Autor grenzt ihn von der Gewissenhaftigkeit und dem Ehrgeiz ab. Dass wir immer noch an den Mythos vom erfolgreichen Perfektionisten glaubten, hänge mit einem Denkfehler zusammen. Weil die Erfahrungen der erfolglosen Perfektionisten und Perfektionistinnen im Verborgenen blieben, würden uns die Erfahrungen derjenigen, „die es geschafft haben“, zu der Annahme verleiten, Perfektionismus sei der Schlüssel zum Erfolg. Das sei ein Trugschluss.
Um die Struktur dieses Persönlichkeitsmerkmals zu erkennen, zieht er die Arbeiten der kanadischen Psychologen Gordon Flett und Paul Hewitt heran, die in den 1990er Jahren ein Drei-Facetten-Modell entwickelt haben und Kernelemente des Perfektionismus freilegten. Sie unterscheiden selbstorientierten, sozial vorgeschriebenen und fremdorientierten (strenge Beurteilung anderer) Perfektionismus.
Radikale Selbstakzeptanz
Es werde allgemein angenommen, dass Perfektionismus resilienter mache, doch das Gegenteil sei der Fall: „Perfektionismus ist das Anti-Resilienz-Programm“, so Thomas Curran. Er gedeihe auf dem Acker unserer dynamisch-verschwenderischen Konsumkultur, der gedüngt werde durch unsere Unzufriedenheit. Der wirkliche Schuldige sei unser neoliberal grundiertes Wirtschaftssystem mit seiner extremen Leistungsorientierung bei einer gleichzeitig immer weiter wachsenden Ungleichheit. Eine „radikale Selbstakzeptanz“ sei ein möglicher persönlicher Ausweg.
„Lassen Sie die Kräfte, die außerhalb Ihres Einflussbereiches liegen, einfach über sich hinweggehen, widerstehen Sie dem Drang, ständig auf die Welt Einfluss zu nehmen.“ Erst dann kämen wir „in den Genuss der Freude, die unwillkürlich aufkommt, wenn Sie Ihre eigenen Entscheidungen treffen“.
Margaret Robinson Rutherford: Die versteckte Depression. Wenn Perfektionismus krank macht. Aus dem Englischen von Lea Cyrus. Junfermann 2023, 222 S., € 29,–
Katherine Morgan Schafler: Perfektionismus: (fast) eine Liebeserklärung. Warum er uns zu Großem befähigt und wir ihn trotzdem manchmal loslassen müssen. Aus dem Amerikanischen von Anja Lerz u.a. Kailash 2023, 400 S., € 20,–
Thomas Curran: Nie gut genug. Die fatalen Folgen des Perfektionismus – und wie wir uns vom Selbstoptimierungsdruck befreien können. Aus dem Englischen von Lucien Deprijck. Rowohlt 2023, 320 S., € 17,–