Herr Egan, Sie haben sich in Ihrer Forschung mit sexueller Besessenheit beschäftigt. Was versteht man darunter?
Sexuelle Obsession kann mit sexuellen Zwangsgedanken einhergehen oder mit dem Zwang zu ständigem Sex. Es ist ähnlich wie bei einer Zwangsstörung. Manche genießen weniger den Sex selbst, es geht ihnen mehr um ihre Fantasien. Die Jagd nach Sex ist für sie wichtiger als das Ergebnis. Andere verbringen extrem viel Zeit mit der Suche nach Sex, etwa auf der Suche nach dem einen pornografischen Bild, das sie brauchen. Oder sie betreiben Sextourismus und haben ständig neue Sexualpartnerinnen und -partner, die sie nicht unbedingt begehren. Diese Menschen beschreiben das nicht als aufregend. Ich sehe zwei gemeinsame Elemente: einen übergroßen Appetit und gewohnheitsmäßigen Überkonsum.
Was meinen Sie damit?
Heute ist Sex quasi überall verfügbar. Bei sexuell obsessiven Menschen kann es zum Kontrollverlust kommen und Sexualität schädlich werden. Beispiele sind Chem-Sex, also Sex unter Einfluss chemischer Drogen, wegen der dabei eingenommenen Substanzen, außerdem ungeschützter Sex mit dem Risiko übertragbarer Krankheiten. Man muss zu einem gesunden Level des Konsums zurückfinden. Es ist ähnlich wie beim Zucker: je exzessiver der Konsum, desto schädlicher.
Welche Voraussetzungen braucht es, damit eine Therapie helfen kann?
Ich denke, wenn Menschen mit ihrem obsessivem Sexualleben Schwierigkeiten haben, können sie ihre Probleme überwinden. Aber sie müssen es wollen, die Verantwortung dafür übernehmen und ehrlich sein. Wenn sie in ihrem Verhalten kein Problem sehen, sollten sie darüber nachdenken, warum andere das tun. In einer Verhaltenstherapie können Betroffene lernen – ausgehend von einer sexuellen Fantasie –, weiterzudenken bis hin zu den unerwünschten Folgen einer möglichen Umsetzung. Wenn es in einer Beziehung durch das Verhalten eines der Partner zu Konflikten kommt, können vielleicht Lösungen und Kompromisse gefunden werden, indem darüber gesprochen und verhandelt wird. Ich halte hier die Devise „vergeben, aber nicht vergessen“ für hilfreich.
Sie berichten zudem über psychologische Forschungen, wonach Sexualität ein Teil unserer Persönlichkeit ist. Können wir unsere Sexualität nicht verändern?
Verschiedene Teams aus Persönlichkeitspsychologinnen und -psychologen haben diesen Zusammenhang in Studien in verschiedenen Ländern und in verschiedenen Populationen gefunden. Die Forschung basiert auf Selbstberichten und Verhaltensindizes. Sexualität ist ein Teil unserer Persönlichkeit, weil die meisten Menschen recht konsistent in ihren grundlegenden sexuellen Neigungen sind. Manche experimentieren gern, sind neugieriger auf sexuelle Trends oder neigen stärker zu Untreue. Andere nutzen nicht alle Möglichkeiten, die es vielleicht gäbe, und sind damit glücklich. Natürlich ist unsere Sexualität wie die gesamte Persönlichkeit auch durch gute oder traumatische Erfahrungen geprägt, und wir können nach schlechten Erfahrungen wählerischer sein, was unsere Sexualpartnerinnen und -partner und den Kontext unserer Sexualität betrifft.
Vincent Egan ist Psychologe und forschte an der Universität Nottingham über sexuelles Zwangsverhalten. Er ist heute als Gutachter und Psychotherapeut in freier Praxis tätig
Vincent Egan: Sexual behaviour as a natural laboratory for understanding individual differences. Personality and Individual Differences, 2021. DOI: 10.1016/j.paid.2020.110036