Wir wollen gerne andere reparieren oder auch reparieren lassen, die wir anstrengend finden. Wenn wir nicht damit einverstanden sind, wie sich jemand uns gegenüber verhält, müssen wir ihn gleich analysieren und seine Beziehungsstörung herausfinden. Wenn wir etwas auffällig finden, machen wir daraus sofort ein Problem, das am besten zum Therapeuten getragen werden müsste. Ganz besonders schlimm: Wenn wir den Eindruck haben, jemand arbeitet zu viel, dann ist garantiert die Work-Life-Balance gestört, und das geht nun mal gar nicht.
Das alles stört mich aus mindestens vier Gründen:
Wir tun dadurch so, als seien kleine Macken etwas Schlimmes, Gestörtes, ein Fall für den Notarzt. Dabei ist es total normal, dass Menschen unterschiedlich sind, dass sie blinde Flecken haben, dass sie uns manchmal auf den Geist gehen und wir miteinander streiten. Nennen wir es gerne spleenig, eigen, nervig, manchmal auch bescheuert…, aber das ist doch nicht immer gleich gestört oder kaputt!
Wir verschieben die Verantwortung, die wir als Freundin haben, in das Gesundheitssystem. Es ist unsere Aufgabe als Freund oder Partnerin, andere einerseits auszuhalten und ihnen andererseits auch die Grenzen aufzuzeigen, wenn es uns reicht. Das sollte uns doch keine Therapeutin abnehmen müssen.
Manchmal pathologisieren wir andere, anstatt uns zu fragen, was wir selbst wollen und wo möglicherweise unsere eigenen Macken oder blinden Flecken sind. Wir möchten, dass alle unsere Werte teilen, die gleichen Ziele haben und bitte auch die gleichen Grenzen. Dabei zeigt uns der Freund, der so viel arbeitet, vielleicht auf, dass wir eigentlich auch mehr Ehrgeiz hätten, aber nicht die Energie aufbringen, ihn umzusetzen. Das wollen wir jedoch bitte schön nicht gespiegelt bekommen.
Wir sind völlig unrealistisch! Eine Psychotherapie kann helfen, depressive Symptome oder Ängste zu lindern, ein Alkoholproblem oder eine Essstörung anzugehen. Das sind alles sehr quälende, leidvolle Zustände, und dieser Leidensdruck ist eine wichtige Motivation für die Betroffenen, um in der Therapie auch hart an sich zu arbeiten. Wenn es um die Macken geht, die vor allem die anderen an uns stören – die machen keinen ausreichenden Leidensdruck, und es ist total unwahrscheinlich, dass sie sich durch eine Therapie ändern.
Was ich mir wünsche: Dass wir aufhören, auf alles, was uns bei anderen stört, einen Pathologiesticker zu kleben. Dass wir uns trauen, unseren Liebsten die Meinung zu geigen, wenn wir finden, dass sie etwas nicht richtig machen. Dass wir auch mal einen Konflikt aushalten, ohne gleich in eine Krise zu verfallen. Und dass wir darauf vertrauen, dass unsere Beziehungen das schon aushalten.
Und, ganz wichtig: dass wir viele schöne Sachen zusammen unternehmen, gemeinsame Projekte starten, gemeinsame Erfolge feiern – und uns auch mal gemeinsam einen antrinken! Dann lebt die Beziehung, und die Macken sind auf einmal gar nicht mehr so wichtig.
Gitta Jacob ist klinische Psychologin, Verhaltenstherapeutin, Supervisorin und Buchautorin. Sie ist in der Hamburger Gaia AG zuständig für klinische Versorgungsprogramme. Zuvor war sie in der Forschung und der Klinik tätig und habilitierte an der Universität Freiburg