Wir sind keine Arbeitssklaven

Psychoanalytiker Rainer Gross über einen Zwiespalt der Arbeitswelt und wie wir damit umgehen können

Illustration von einem Mann im Anzug, der am Boden liegt und über ihm droht eine Büroklammer ihn zu erdrücken
Was kann helfen, wenn die Arbeit zur erdrückenden Last wird? © Psychologie Heute

Der Artikel „Wir sind keine Arbeitssklaven" von Rainer Gross ist zuerst erschienen in Psychologie Heute 07/2015.

Im Zuge des 50-jährigen Jubiläums von Psychologie Heute empfiehlt die Redaktion Artikel aus jedem Jahrzehnt seit Bestehen unseres Magazins.

Der Text wurde inhaltlich unverändert übernommen. Zur besseren Lesbarkeit wurden Zwischenüberschriften nachträglich eingefügt.

Lewis Carroll schickte seine Heldin in einen seltsamen Kampf. Die mörderische Rote Königin zwingt Alice im Wunderland zu einem Wettlauf. Kurz vor der totalen Erschöpfung bemerkt Alice, dass sie nicht vom Fleck kommt:

„In unserer Gegend (sagte Alice, atemlos) kommt man im Allgemeinen woanders hin, wenn man so schnell und so lange läuft wie wir eben.“

„Behäbige Gegend!“, sagte die Königin. „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woanders hinzukommen, muss man noch mindestens doppelt so schnell laufen!“

Darauf erwidert Alice: „Ich möchte lieber nicht.“

Für immer mehr Menschen fühlt sich ihr Berufsleben heutzutage so an wie der Wettkampf zwischen Alice und der Königin. Sie laufen immer schneller, kommen aber trotzdem nicht voran. Bestenfalls halten sie die bereits erreichte Position. Trotzdem müssen sie weitertraben wie auf einem Laufband, das von einem sadistischen Trainer immer schneller gestellt wird.

Warum haben wir diesen Artikel ausgewählt?

Redakteurin Susanne Ackermann über den Artikel „Wir sind keine Arbeitssklaven":

Im Sommer 2015 sichtete ich in einer Buchhandlung die dortige Zeitschriftenauslage und stieß dabei auf Psychologie Heute, ein Magazin, das ich seit langem kannte. Damals arbeitete ich in einer kleinen Agentur für Public Relations. Es war eine Zeit, in der ich das Verhalten der Unternehmenskunden meines Arbeitsgeber teilweise als sehr beunruhigend und belastend empfand. Die ständige Unsicherheit, welche Aufträge wir bekommen würden, welche nicht und warum, machte mir zu schaffen.

Ich blätterte in dem Magazin — und als ich den Beitrag des Psychoanalytikers Rainer Gross sah, kaufte ich das Heft spontan. Gross beschreibt die ambivalente Lage, die zum Teil in sich widersprüchlichen Anforderungen, in der sich Arbeitnehmende auch heute befinden, aus meiner Sicht vollkommen zutreffend. Deshalb habe ich mich an diesen Artikel spontan erinnert und ihn für das Jubliläum von Psychologie Heute ausgewählt. Er ist in meinen Augen heute genauso aktuell wie damals.

In diesem Bild zeigt sich eine der häufigsten Klagen in der Arbeitswelt von heute: das hilflose Leiden an der Beschleunigung. Zeithunger und Zeitknappheit beherrschen den Alltag sehr vieler Menschen. Es scheint, als sei die Prophezeiung des Philosophen Günther Anders wahr geworden, der schon 1987 bemerkte: „Alles, was dauert, dauert zu lange, und alles, was Zeit beansprucht, beansprucht zu viel Zeit." Nur der Ausweg der höflichen Verweigerung, wie ihn Alice im Wunderland wählt, steht uns leider heute nicht mehr offen. Wir bleiben im Hamsterrad, wir glauben, weitermachen zu müssen.

In der Doppelzange aus Markt und Bürokratie

Wer im Jahr 2015 im Beruf, aber auch im Privatleben halbwegs zurechtkommen möchte, von dem werden einige kulturgeschichtlich relativ neue Kompetenzen erwartet. Ohne Flexibilität, Offenheit für Veränderung, Risikofreudigkeit, autonom-aktives und selbstverantwortliches Handeln geht es nicht. Die Anforderungen ändern sich schließlich fortlaufend, das Laufband wird schneller gestellt; daran gilt es, sich anzupassen.

Doch zusätzlich zu diesen neuen Qualitäten sollen die meisten Arbeitnehmer immer noch die alten Tugenden aufweisen: Verlässlichkeit, Ausdauer, Genügsamkeit und Loyalität. Der Balanceakt ist schwierig, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erleben wir oft schmerzlich am eigenen Leib.

Ein Beispiel dafür ist die Situation vieler Beschäftigter im öffentlichen Dienst, etwa in Krankenhäusern. Sie fühlen sich, wie es der Psychiater Klaus Dörner beschreibt, hilflos „in der Doppelzange aus Markt und Bürokratie“. Von den noch vor 20 Jahren als so befreiend erlebten Chancen durch Veränderungen ist oft nur mehr die Überforderung geblieben – und die Angst. Die Angst davor, es irgendwann einmal nicht mehr zu schaffen, nicht mehr mitzukommen. Die Folgen sind bekannt. Zuletzt beschrieb sie der österreichische Sozialexperte Martin Schenk pointiert so: „Burnout ist die Erzählung davon, wie wir zusammenbrechen dürfen, ohne uns dafür schämen zu müssen.“

In den vielen Zeitungsartikeln, Fernsehsendungen und Büchern zur Arbeitsbelastung fallen immer dieselben Schlagworte: Belastung durch Beschleunigung, Überforderung, Erschöpfung, Depression und natürlich Burnout. Deutlich seltener wird die diskrete Vorstufe der Erschöpfung und der meisten psychischen Erkrankungen angesprochen: die Angst.

Angst vor der Arbeit

Angst ist wohl der zentrale negative Gefühlszustand in unserem Leben. Im Gegensatz zu depressiven, traurigen Gefühlen, die eher auf die Vergangenheit gerichtet sind, also ein Leiden an bereits eingetretenen Verlusten sind, richtet sich die Angst immer auf die Zukunft. Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeuten gehen davon aus, dass jeder Mensch seine Angstbiografie hat: Wir haben gelernt, in bestimmten Situationen Angst zu haben. Das gilt auch am Arbeitsplatz. Doch was bereitet Berufstätigen wirklich Sorgen?

Existenzängste – dazu zählen die Angst vor Arbeitsplatzverlust, vor Krankheit und Unfall und, speziell bei älteren Kollegen, die Angst, überflüssig zu sein oder zu werden.

Soziale Ängste betreffen den zwischenmenschlichen Bereich: Angst vor Konkurrenten, vor Mobbing durch Kollegen und Vorgesetzte, Angst vor Fehlinformation oder vor Ausschluss von Informationen, Angst vor mangelnder Wertschätzung und Anerkennung. Immer öfter berichten Arbeitnehmer auch von Angst vor Einengung des Handlungsspielraums.

Leistungs- und Versagensängste umschreiben die Angst vor Überforderung, Angst vor Innovation, Angst vor Fehlern, vor Zeitdruck und neuen Technologien.

Wenn ein Arbeitnehmer jahrelang zu viel Angst am Arbeitsplatz erlebt hat – und meist gleichzeitig zu wenig Anerkennung erhalten hat –, wird er die Folgen psychisch und auch körperlich spüren: Die meisten Betroffenen schildern ein umfassendes Gefühl von Erschöpfung, Schmerzen und Enttäuschung. Spätestens zu diesem Zeitpunkt fällt dann das vielstrapazierte Wort: Burnout!

Von Burnout sprechen wir, wenn die drei Symptome von Erschöpfung, Leistungsreduktion und Selbstentfremdung bei einem Menschen auftreten und der Zusammenhang dieser Symptomatik mit seiner Arbeitssituation gesichert ist. Zwar beklagen Psychiater und Psychotherapeuten die inflationäre Verwendung der Selbstdiagnose Burnout. Doch den allermeisten Betroffenen ist es herzlich egal, ob Burnout nun ein von den Behandlern anerkannter Befund ist – für sie passt er, sie verwenden ihn.

Verzicht scheint keine Option zu sein

Doch wenn das Problem in einem Zuviel an Arbeit besteht – warum gibt es dann keinen gesellschaftlichen Konsens, weniger zu tun? Ein Rückblick ins 20. Jahrhundert erhellt unsere gegenwärtige Situation: Als sich 1929 die große Wirtschaftskrise infolge des Börsencrashs schon abzeichnete, hielt der Ökonom John Maynard Keynes im Political Economy Club in Cambridge einen Vortrag darüber, wie er sich die Zukunft des Menschen in hundert Jahren vorstellte. Er war überzeugt davon, dass aufgrund des technischen Fortschritts, der kontinuierlich zunehmenden Produktivität und des steigenden Vermögens „das wirtschaftliche Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst sein dürfte“. Daher würden die Menschen im Jahr 2030 von ihren drückenden wirtschaftlichen Sorgen erlöst sein, ihr größtes Problem werde vielmehr darin bestehen, ihre Freizeit auszufüllen. Denn „Drei-Stunden-Schichten oder aber eine 15-Stunden-Woche“ würden dann völlig ausreichen, um die absoluten Lebensbedürfnisse zu befriedigen.

Keynes Vision hat sich bekanntlich bisher nicht erfüllt und wird sich wohl auch in den Jahren bis 2030 nicht erfüllen. Warum eigentlich? Der Wiener Ökonom Stephan Schulmeister bemerkt dazu lakonisch: Keynes habe sich geirrt, weil er glaubte, dass die gesellschaftliche Entwicklung von Vernunft geprägt sei. Das aber sei, auch in diesem Falle, eine irrige Annahme.

Der Keynes-Biograf Robert Skidelsky sieht dies ähnlich: Keynes habe eine menschliche Eigenschaft massiv unterschätzt, nämlich die Gier. Sowohl die Gier der Unternehmer (die Gewinne nicht weitergeben wollen) als auch die der Arbeiter (die durch immer mehr Arbeit immer mehr Geld verdienen wollen). Heute sei die Profitsucht auch noch durch den ständigen neidvollen Vergleich mit den anderen größer geworden: Früher verglich man sich mit den Bewohnern des eigenen Dorfs. Die Unterschiede waren relativ gering. Alle waren ähnlich arm, nur der adelige Großgrundbesitzer hatte so viel mehr, dass man sich mit ihm erst gar nicht verglich. Heute kann (und muss?) man sich über das Internet weltweit vergleichen. Dort gibt es immer jemand, dessen Kleidung noch schöner, dessen Haus noch größer, dessen Urlaube noch fantastischer sind als die eigenen.

Und es ist nicht nur die Gier nach Geld, also nach materiellem Status, sondern auch die nach Bedeutung, nach Lebenssinn. Jeder Einzelne von uns hat wohl seine eigene psychologische Motivation und Begründung für die Überforderung, die er sich zumutet.

Lieber mehr als weniger arbeiten

Denn die Idee, dass wir als völlig durchschnittliche Kollegen gesehen werden könnten, die vielleicht erst daheim als liebevoller Vater oder sensible Partnerin Erfüllung finden: Eine solche Vorstellung fällt uns schwer. Wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass uns die Arbeit nicht nur den materiellen Lebensunterhalt bietet, sondern uns meist auch noch mit der psychologisch so nötigen Sinnstiftung versorgt – weshalb wir auch fast alle lieber mehr als weniger arbeiten (wollen).

Deshalb finden überforderte Arbeitnehmer oft keinen Ausweg; eben weil kein anderer Bereich ihres Lebens für sie auch nur annähernd so sinnstiftend ist wie ihr Beruf. Bis zuletzt versuchen sie, ihre Belastbarkeit zu erhöhen, statt den Stress zu reduzieren. Im schlimmsten Fall wird dann die Angst vor dem Zusammenbruch irgendwann zur Realität.

Aber schon die Jahre vor einem Langzeitkrankenstand wegen totaler Erschöpfung oder auch die Zeit vor einer Kündigung sind sowohl für Betroffene als auch für ihre Vorgesetzten oft höchst unerfreulich: Die demoralisierten Angestellten finden nur schwer zu einem gesunden Arbeitsstil, schlimmstenfalls leisten sie – obwohl sie doch eigentlich an ihrem Job hängen – nur noch Dienst nach Vorschrift, sind dabei verbittert und gleichzeitig angsterfüllt. Natürlich müssen sie dann durch ihre verminderte Leistung tatsächlich befürchten, von der nächsten Restrukturierung oder Entlassungswelle betroffen zu sein. Sie haben also nicht nur Angst, diese ist auch berechtigt.

Wir sprechen hier von einem weitverbreiteten Szenario: Einer repräsentativen Befragung der Beratungsfirma Gallup zufolge leisten – Stand 2013 – 67 Prozent der Arbeitnehmer nur Dienst nach Vorschrift; 17 Prozent sind emotional ungebunden, haben also innerlich bereits gekündigt. In ganzen Zahlen ausgedrückt: In Deutschland fühlen sich immerhin fast sechs Millionen Menschen emotional von ihrem Unternehmen entfremdet.

Was hilft: Zurücktreten und Probleme erkennen

Eine grundlegende Therapie zum Umgang mit dem heutigen Arbeitsleben bleibt eine vorerst unlösbare Aufgabe. Dennoch lohnt es sich, auch über solche unlösbaren therapeutischen Probleme nachzudenken, weil erst auf diese Weise klar wird, wie viele Aspekte der leidvollen Situation wir in unserem Denken und Fühlen bereits naturalisiert haben – also als unabänderlich empfinden –, weil wir sie ja auch bisher nie verändert haben. Im Sinne Bertolt Brechts gilt: „Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.“

Die meisten Patienten, die ich als Psychoanalytiker in der Sozialpsychiatrischen Abteilung des Landesklinikums Hollabrunn behandle, meine Klienten in Supervision und Beratung, aber auch die meisten Kollegen erleben die Realität ihrer Arbeitssituation als belastend. Sie empfinden ihre eigenen Handlungen, aber auch Wünsche und Fantasien als primär reaktiv: Ihr Grundgefühl am Arbeitsplatz ist das Handeln aus der Defensive. Ein junger, sehr ehrgeiziger und auch sportlicher Klient beschreibt das prägnant: „Sie wissen, ich spiele ganz gut Tennis. In meinem neuen Job habe ich das Gefühl, dass ich immer nur der Rückschläger bin – ich komme nie zum Aufschlagspiel. Da macht man immer mehr Fehler, und irgendwann resigniert man.“

Ständig kommen neue Reize von außen – und am Arbeitsplatz meist „von oben“ – auf uns zu, die wir als überwiegend negativ erleben. Gesteigerte Anforderungen, Aufteilung von mehr Arbeit auf weniger Mitarbeiter, gleichzeitig oft Einschränkung von Handlungsoptionen. Dazu noch mangelnde Wertschätzung und kein oder nur negatives Feedback: Darauf muss man reagieren, hat ganz selten das Gefühl, selbst eine Richtung vorgeben zu können. Ein solch defensives Grundgefühl am Arbeitsplatz führt über längere Zeiträume geradewegs in die Resignation, in die innere Kündigung oder (seltener) in die aggressive Auflehnung gegen solche Arbeitsbedingungen.

Erst durch ein Zurücktreten, Heraustreten aus der als belastend und freiheitseinschränkend empfundenen Maschinerie ergibt sich die Chance, das gesamte Spielfeld eines Arbeitsplatzkonfliktes zu überschauen, im Idealfall auch die Spielregeln zu problematisieren. Ein erster Schritt muss oft das beschämende Eingeständnis der eigenen Reaktanz sein – das bewusste Akzeptieren des Faktums, dass die verbliebenen Handlungsalternativen minimal und primär reaktiv sind. Dies werden sie auch so lange bleiben, bis man einen archimedischen Punkt außerhalb des Systems gefunden hat, um Einschränkungen oder Begrenzungen im Idealfall auszuhebeln, zumindest aber auf ein erträgliches Maß zu lindern.

Inseln des Rückzugs und der Entspannung

Soweit der utopische Wunsch. Etwas realistischer erscheint mir ein Etappenziel erreichbar zu sein: Wie kann man innerhalb eines Betriebs zumindest Inseln des Rückzugs, der Entspannung, ja vielleicht sogar wieder Ansätze von Solidarität finden oder für sich neu schaffen? Gibt es Möglichkeiten eines kreativen Abschaltens, die ein gestärktes Zurückkommen ermöglichen?

Abschalten in einem umfassenderen Sinn bedeutet nach meiner Einschätzung vor allem ein Akzeptieren der schrecklichen Wahrheit: Wir können die allermeisten Belastungsfaktoren unseres Alltags nur begrenzt kontrollieren und beeinflussen. Dringend nötig für Entspannung wäre also eher das Gegenteil der hektischen Aktivitäten: Toleranz für Passivität, Langeweile – für ein Leermachen des Kopfes. Die Neurowissenschaft sagt uns, dass erst eine solche „passive Aktivität“, eine positive Leere wieder Phasen von Kreativität ermöglichen kann. Oft ist es verblüffend schwer, auch nur kurze Phasen einer solchen Ruhe passiv auszuhalten, ohne sich sofort wieder in die nächste Aktivität zu stürzen. Der Dichter John Keats beschrieb eine solche negative capability als Vorbedingung jeglicher schöpferischen Tätigkeit.

Dazu muss man kein selig lächelnder Mystiker werden, braucht auch keine jahrelange Meditationspraxis (obwohl diese dabei hilft). Dazu muss man „nur“ die Blickrichtung ändern: So wie auch der sprichwörtliche Esel erst den Blick von der Karotte weglenken muss, die man ihm vor die Nase hält, damit er trotz Müdigkeit zum Weitergehen zu bewegen ist. Wenn wir die Blickrichtung ändern, können wir vielleicht das Ziel des dauernden Erfolges, des lebenslangen Hochkletterns auf der Karriereleiter bis zum endlich erreichten Glück als unsere moderne Illusionskarotte erkennen und uns die Frage stellen: Wozu brauche ich das? Oder: Was bringt es mir (noch)? Wir alle haben ja einen guten Grund, uns selbst auszubeuten und von der Notwendigkeit dieser Selbstausbeutung überzeugt zu sein.

Im psychotherapeutischen Jargon gesprochen: Jeder Patient hat einen guten Grund für sein Symptom. Jedes Symptom hat einen Sinn, eine Funktion im Seelenleben: Es hat uns früher vor noch schlimmeren (befürchteten) Katastrophen bewahrt. Daher wird es erfahrungsgemäß erst dann aufgegeben, wenn

– der Leidensdruck zu groß wird,

– das Symptomverhalten nicht mehr der eigenen Persönlichkeit entspricht (ichsyntones Verhalten), sondern mit der Erkenntnis verbunden ist: So bin ich nicht, so will ich nicht sein (ichdystones Verhalten).

Das Undenkbare denken

Was würde uns entgehen, was würde aus unserem Leben verschwinden, wenn wir nicht mehr das Ideal hätten, effizient und dynamisch bis zu zwölf Stunden am Tag arbeiten zu können – und das am besten bis ins hohe Alter? Würden wir nur auf Geld verzichten müssen oder auch (schlimmer?) auf lebenswichtige tragende Elemente unserer Selbstwert-Konstruktion?

Ich glaube, dass erst durch eine solche Selbstbefragung und nach einer Anerkennung des sichtlich beträchtlichen Krankheitsgewinns aus unserem bisherigen Arbeitsverhalten sich die Möglichkeit einer wirklichen Work-Life-Balance abzeichnen könnte: Erst dann gibt es die Hoffnung, dass Life sich nicht mehr genauso anfühlt wie Work, und erst dann gibt es die Hoffnung auf ein gelingendes, gutes Leben.

Wenn aber nicht mehr nur die Arbeit im Zentrum unseres Lebens stünde – was dann? Trotz aller Konzepte, Therapien und trotz allen achtsamen Spürens: Vorerst werden wir noch innerhalb der globalen Maschine weiterleben müssen. Wir werden auch in den nächsten Jahren weder stressfrei noch angstfrei leben, werden höchstwahrscheinlich auch im Alter weiterarbeiten (müssen oder dürfen), manchmal sicher auch gern!

Aber der Feind unseres guten Lebens, der Antreiber zur Hochleistung und zur Erschöpfung ist nicht nur der böse Chef oder die entfesselte Ökonomie – der internalisierte Feind ist tief in unsere Seelen eingeschrieben. Diese Erkenntnis allein bewirkt natürlich noch lange keine Änderung – aber sie kann vielleicht wie der kleine Stein im Schuh wirken, der uns drückt und darauf aufmerksam macht, dass wir etwas ändern müssen. Das können wir sicher nicht allein, nicht schon morgen und bestenfalls schrittweise erreichen. Die Chancen auf Änderung unserer konkreten Arbeitsverhältnisse aber steigen deutlich, wenn unsere Ängste abnehmen. Angst macht nämlich oft dumm. Bewusstgemachte Angst hingegen macht uns denkfähiger, dadurch auch fähiger zur Lösung großer und unlösbar scheinender Aufgaben:

Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.

Rainer Gross ist Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Wien (Psychoanalyse, Psychotherapie, Einzel- und Gruppensupervision). Er ist Lehrtherapeut für psychoanalytisch orientierte Psychotherapie an der Wiener Psychoanalytischen Akademie sowie Lektor an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2015: Moment mal!
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