Wie viel Popularisierung verträgt die Psychologie?

Mit Psychologie füllt man Hallen und verkauft Bestseller – ist das problematisch? Eckart von Hirschhausen, Stefanie Stahl und Leon Windscheid äußern sich.

Die Illustration zeigt zwei Sprechblasen mit einer Schnittmenge
Bei Debatten sollten immer beide Seiten angehört werden, sonst gehen wichtige Informationen verloren. © Richard Drury/Getty Images

Bestsellerbücher, ausverkaufte Bühnenshows, viral gehende Hashtags: Wer medienwirksam über Psychologie spricht, landet schnell einen Kassenschlager. Psychoanalytikerin Dr. Diana Pflichthofer kritisiert in „Psychoindustrie“: Wie viel Kommerz verträgt Psychologie? den Boom und sieht falsche Hilfeversprechen. Wir haben Eckart von Hirschhausen, Stefanie Stahl und Leon Windscheid angeboten, sich zu der Kritik ausführlich und direkt zu äußern. Ihre Antworten lesen Sie hier.

Eckart von Hirschhausen: „Mehr Reflexion der eigenen Zunft“

Liebe Psychologie Heute, danke für die Gelegenheit, ein paar ­Gedanken zur „Psychoindustrie“ beizutragen. Stimmt, da sind dubiose Anbieter unterwegs. Es ist wichtig, über die gefährlichen Auswüchse aufzuklären. Und genau das versuche ich seit langem. Seit meiner Zeit als Arzt in der Kinderneurologie und Psychiatrie liegt mir das Thema seelische Gesundheit am Herzen. Deshalb schreibe ich darüber, halte Vorträge wie auf dem ­DGPPN-Kongress und bringe relevante Themen wie Depressionen, Suizid und die fälschliche Psychologisierung der Long-Covid-Betroffenen in die ­Primetime der ARD.

Ich habe das Buch von Diana Pflichthofer gelesen und mit ihr telefoniert. Vieles konnten wir im direkten Gespräch klären, manches blieb kontrovers. Ich verstehe, dass pauschale Aussagen von mir unnötig provoziert haben. Und die positive Psychologie sehe ich heute auch deutlich kritischer. Was auch stimmt: Ich bin nicht der größte Fan der Psychoanalyse. Im familiären Umfeld habe ich leidvoll erlebt, dass nach Jahrzehnten voller Sitzungen nichts besser wurde und jemand mit 75 Jahren im Glauben starb, die Kindheit nicht ausreichend bearbeitet zu haben. Hoffentlich ein Einzelfall.

Psychotherapie kann heißen: „Finde ein neues Ende für eine alte Geschichte.“ Manche finden keins. Wie gut Therapie wirkt, hängt wenig an Stunden oder „Schulen“. Das meinte ich vor inzwischen 15 Jahren mit der „Ressourcen­verschwendung“. War ich deshalb Teil einer gefährlichen Psychoindustrie?

Wenn jemand so heftig gegen andere austeilt, würde ich mir mehr Reflexion der eigenen Zunft gegenüber wünschen. Bekommen Menschen mit dem höchsten Bedarf denn auch den schnellsten Zugang zu Hilfe und Ressourcen? Wenn nur etwa 20 Prozent der Menschen mit psychischen Belastungen eine angemessene Behandlung erhalten, reicht es ja nicht, mehr Kassensitze zu fordern. Wie können wir die Prävention verbessern, die Früherkennung und die Frühintervention? Warum lernt man immer noch in der Schule etwas über Punische Kriege, aber nichts über Panikattacken?

Früher nahmen Therapeuten am gesellschaftlichen Diskurs teil, wie Horst-Eberhard Richter oder Margarete Mitscherlich. Ich habe Paul Watzlawick geliebt, über seine Geschichten gelacht und viel gelernt. Wenn solche öffentlichen Mitdenker, Vermittler und Zugänge fehlen, grätschen andere in dieses Vakuum. Wer der „Psychoindustrie“ das Wasser abgraben will, könnte doch selbst dort auftauchen, wo Menschen Erste Hilfe suchen. Auf TikTok erreicht Umut Özdemir Millionen, ich mache mit Betroffenen und Experten die YouTube-Serie Alle verrückt, und Krisenchat ermöglicht niederschwellige Angebote auf dem Handy.

Viele Ängste 2025 sind höchst real, liegen nicht in der Vergangenheit begründet, sondern in der Gegenwart und Zukunft: Krieg und Klimakrise, Naturzerstörung und Nazis. Die Antwort darauf kann nicht nur in individueller Therapie liegen, wenn die Ursachen außerhalb des Individuums zu lösen sind. Gesunde Menschen mit gesunden Seelen gibt es nur auf einer gesunden Erde.

Das Foto zeigt ein Porträt von Eckart von Hirschhausen
Das Foto zeigt ein Porträt von Eckart von Hirschhausen
Dr. Eckart von Hirschhausen ist Arzt, Wissenschaftsjournalist und Gründer der Stiftung ­Gesunde Erde Gesunde Menschen.

Stefanie Stahl: „Meine Show hat nicht den Anspruch, psychotherapeutisch zu wirken“

Frau Stahl, die Psychoanalytikerin Frau Pflichthofer prangert Plagiate in Ihrem Buch Wer wir sind und eine nicht wissenschaftsadäquate Zitierweise an. Was sagen Sie dazu?

Richtig ist, dass ich Klaus Grawe das Buch gewidmet habe. Sachbücher müssen nicht der wissenschaftlichen Zitierweise genügen. Ich habe den Anspruch, psychologisches Wissen so verständlich zu vermitteln, dass jeder Mensch davon profitieren kann.

Sie haben eine psychotherapeutische Ausbildung absolviert, wissen also, wie viel Zeit und Raum es braucht, um Menschen tatsächlich zu helfen. In Berichten, die man über Ihre Bühnenshows hört oder sieht, wirkt es, als würden Sie von dort therapeutisch wirken wollen. Geht das denn überhaupt?

Meine Bühnenshow hatte nie den Anspruch, psychotherapeutisch zu wirken. Es ging dabei um die Vermittlung psychologischen Wissens, insbesondere der psychologischen Grundstruktur. Dieses Wissen wurde auch in einer Sequenz der Show interaktiv mit den Gästen erarbeitet.

Durch den medialen Fokus auf die Psychologie entsteht auch ein Druck zur Selbstoptimierung. Tragen Ihre Bücher und Shows dazu bei? Richtig ist, dass ich Millionen von Menschen mit all meinen Formaten geholfen habe und helfe, sich selbst besser zu verstehen und ihre Probleme zu lösen. Sie berichten mir von ungeheurer Erleichterung. Das Wort „Selbstoptimierung“ verwende ich nicht, in all meinen Formaten geht es um Selbstreflexion. Diese bezeichnet den Prozess, sein eigenes Denken, Fühlen, seine Wahrnehmung und sein Verhalten zu hinterfragen, und negative Introjektionen zu erkennen. Diese Introjektionen führen häufig zu negativen Projektionen auf andere Menschen, die wiederum unfaires Verhalten und unangemessene Aggression zur Folge haben können. Der gut reflektierte Mensch verfügt über Mitgefühl und verhält sich zum Wohl der Allgemeinheit. Hierauf liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit.

Das Bild zeigt ein Porträtfoto von Stefanie Stahl
Das Bild zeigt ein Porträtfoto von Stefanie Stahl
Stefanie Stahl ist Psychologische Psychotherapeutin, Buchautorin und hat zwei Podcasts.

Leon Windscheid: „Ich finde es kritisch, alle über einen Kamm zu scheren“

Herr Windscheid, Frau Pflichthofer übt Kritik daran, dass Sie Studien verkürzt darstellen, Befunde dramatisieren und damit verfälschen. Wie sehen Sie das?

Die Psychologie als Wissenschaft hat Schwächen, deshalb sollten wir alle kritisch hingucken. Das ist daher eine Kritik, die ich in Teilen annehme. Andererseits: Wenn eine Studie eine kleine Stichprobe hat, heißt das nicht unbedingt, dass man daraus nichts ableiten kann, man sollte die Stichprobengröße aber berichten.

Die Psychologisierung unserer Gesellschaft zu beanstanden ist richtig, und dass wir eine Diskussion dazu brauchen, dem stimme ich sofort zu. Aber man muss unterscheiden und sollte nicht alle über einen Kamm scheren.

Dass Gurus ein neues Leben versprechen oder dass ein Instagram-Coach in 15 Sekunden eine ADHS-Diagnose stellt, das geht nicht. Ich aber spreche in meiner Arbeit mit Psychologieprofessorinnen und Hirnforschern, zitiere Studien und gebe Quellen an.

Ist es denn möglich, in einem Bühnenprogramm mit Pointen differenziert über Wissenschaft zu berichten?

Absolut ja. Wissenschaftskommunikation muss gut verständlich sein. Dafür muss man Inhalte vereinfachen, ohne dabei zu weit zu gehen. Ich stelle mir immer eine Person vor, die acht Stunden bei einer Versicherung in der Schadensabteilung oder einer Autowerkstatt arbeitet. Und so jemand kommt abends zu meiner Show, schlägt die Psychologie Heute auf oder schaltet eine Hirschhausen-Sendung ein. Für mich persönlich gilt: Ich will, dass diese Person eine gute Zeit hat und etwas für sich mitnehmen kann, ohne dass sie sich dafür in die Psychologie hineinfuchsen muss

Bestseller, Abendsendungen im TV, Bühnenshows: Hilft es den Menschen, so häufig über den Seelenzustand zu reden?

Ich sage: Lasst uns über Psychologie sprechen und das Stigma aufbrechen. Aber es gibt garantiert auch ein Zuviel. Es ist nicht alles immer gleich Krankheit, nicht alles ist traumatisch, es ist nicht alles ein Trigger. Solche Begriffe werden heute für zu viele Situationen benutzt. Damit tun wir denen, die wirklich betroffen sind, keinen Gefallen. Gleichzeitig erlebe ich in den Gesprächen mit Menschen noch immer ganz viel Scham. Alle, die in diesem Bereich aktiv sind, können daran etwas verändern, nämlich die Stigmatisierung von Therapie und Hilfesuchen aufzulösen. An dem Punkt erweist Frau Pflichthofer den Betroffenen einen Bärendienst.

Wieso?

Sie behauptet, ich würde mich psychotherapeutisch verhalten, und kritisiert, in welchem Rahmen ich mit Betroffenen vor der Kamera spreche. Tatsächlich mache ich aber immer wieder klar, dass ich kein Therapeut bin, ermuntere die Menschen, sich von ausgebildeten Profis Hilfe zu holen, und erkläre, wo es die gibt.

Würde die Autorin sich mit den Menschen aus meinen Sendungen im ZDF unterhalten oder die Kommentare unter dem Podcast ansehen, dann wüsste sie, wie wichtig es ist, dass die Psychologie ein breites Publikum erreicht. Und dass wir den Betroffenen Gehör verschaffen. Es gibt so viele, die danke sagen und dass es ihnen guttut, zu wissen, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind, oder zu erfahren, dass Psychotherapie hilft.

Das Foto zeigt ein Porträt von Leon Windscheid
Das Foto zeigt ein Porträt von Leon Windscheid
Dr. Leon Windscheid ist Psychologe, Buchautor, Moderator beim ZDF und hat einen Podcast.

Lesen Sie außerdem, welche Kritikpunkte Psychoanalytikerin Dr. Diana Pflichthofer äußert in „Psychoindustrie“: Wie viel Kommerz verträgt die Psychologie?

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