Frau Dr. Pflichthofer, Ihr neues Buch liest sich ein wenig wie eine Anklageschrift. Auf der Anklagebank befindet sich die „Psychoindustrie“. Wer oder was zählt für Sie dazu?
Es kann natürlich passieren, dass etwas, das auf Missstände hinweist, als Anklage verstanden wird. Mein primäres Ziel ist aber Aufklärung. Und was ich bemängele, ist, dass der gesamte psychotherapeutische Sektor Gefahr läuft, in die Elemente der Industrialisierung eingemeindet zu werden. Kernelement davon ist: Es wird produziert und Geld verdient, aber die Qualität muss nicht zwingend gut sein. Ich finde, dass auf dem Gebiet Psychotherapie erstaunlich viele Laien unterwegs sind, die sich etwas angelesen oder einen Kurs gemacht haben und dann vermitteln, dass sie nicht nur freundliche Gespräche anbieten – was in Ordnung wäre –, sondern solche mit einem psychotherapeutischen Charakter. Das hat sich unheimlich verselbständigt.
Sie kritisieren in Ihrem Buch aber auch so populäre Fachleute wie Eckart von Hirschhausen, Leon Windscheid und Stefanie Stahl. Was stört Sie an diesen Personen?
Es stört mich, als was sie von den Medien und Verlagen verkauft werden. Es wird viel dafür getan, die Personen als heilsbringende Expertinnen und Experten aufzubauen. Herr von Hirschhausen zum Beispiel: Er hat ein unheimliches Talent, ist witzig und macht gutes Kabarett. Wenn er das auch so nennt oder auch eine Sendung macht, die unterhaltsam über psychologische Themen spricht, ist das in Ordnung.
Wenn er sich aber als Experte in Sachen Psychotherapie geriert, finde ich das schwierig, zum Beispiel wenn er auf einem Kongress für positive Psychologie auftritt und die Psychoanalyse als „Ressourcenverschwendung“ bezeichnet. Mit welcher Expertise? Er ist Arzt, daran gibt es keinen Zweifel, aber er ist, so weit ich weiß, kein Facharzt für Psychiatrie oder für psychosomatische Medizin und er hat auch keine psychotherapeutische Ausbildung, aber er geriert sich aus meiner Sicht als jemand, der sich dazu fachkundig äußern kann.
Stefanie Stahl ist tatsächlich ausgebildete Psychotherapeutin. Dennoch gab es eine Art Auseinandersetzung zwischen Ihnen beiden.
Dazu möchte ich vorwegsagen: Ich kenne Frau Stahl nicht persönlich und habe auch nichts gegen sie als Person. Es geht mir darum, mich mit den Inhalten ihrer Arbeit auseinanderzusetzen, und die sehe ich sehr kritisch. Stefanie Stahl hat bisher populärwissenschaftliche Ratgeber geschrieben und unheimlichen Erfolg damit. Der ist ihr zu gönnen. Ihr neues Buch Wer wir sind wurde dann aber als wissenschaftlich angepriesen, was für mich eine neue Stufe darstellt. An der Stelle bin ich neugierig geworden und wollte es lesen.
Was haben Sie bei der Lektüre herausgefunden?
Die ganze Art des Buches ist aus meiner Sicht keineswegs wissenschaftlich, was schon damit beginnt, dass Frau Stahl zum Teil Thesen aufstellt, ohne sie näher zu belegen oder Quellen zu nennen. Thesen kann man durchaus auch aufstellen, aber dann sollte man sie auch so nennen. Eher zufällig ist mir bei der Lektüre aufgefallen, dass sie sich in ihrem Buch mehrfach auf den 2005 verstorbenen Psychotherapeuten Klaus Grawe bezieht. Daher habe ich mal in das Buch von Grawe hineingeguckt und mir ist aufgefallen, dass Stefanie Stahl daraus Zitate übernommen hat, ohne sie als solche zu kennzeichnen. Immer öfter habe ich im Buch von Stahl Sätze gelesen, die ausgestanzt wirkten und diese einfach mal bei Google eingegeben. Dabei habe ich festgestellt, dass Frau Stahl auch aus Internetquellen abgeschrieben hat. Das fand ich dann schon unlauter.
Die Süddeutsche Zeitung hat darüber berichtet.
Das Buch enthält am Ende mehr als 30 Stellen mit Plagiaten, wie ein Gutachten belegte. Das habe ich in Auftrag gegeben, weil die Tatsache ohne Gutachten für die Medien nicht interessant war. Erstaunlich war vor allem, was geschah, nachdem über die Plagiate berichtet worden ist: nämlich wenig. Es war wohl vielen einfach egal. Dem Verlag, den Medien. Frau Stahl verkauft ihre Bücher, macht ihre Shows. Das finde ich irritierend.
Der Psychologe Leon Windscheid hat ebenfalls große Reichweiten.
Herr Windscheid macht seine Shows und verdient damit Geld, das ist auch ihm zu gönnen. Er wird medial aber zunehmend als Experte für Psychotherapie aufgebaut, eine Fachkunde, die er nicht besitzt. Er ist Psychologe und hat meines Wissens nach keine Psychotherapie-Ausbildung absolviert. Bei ihm ist zudem der Umgang mit Studienergebnissen interessant. Er gibt sie sehr vereinfacht wieder, sehr dramatisiert und dadurch verfälscht. Ich habe mal nachgelesen und festgestellt, dass die Ergebnisse sich für mich im Originalpaper deutlich weniger dramatisch und damit anders darstellen, als Leon Windscheid sie erzählt.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Er berichtet etwa von einer Studie zur Langeweile und sagt, 25 Prozent der Frauen und 67 Prozent der Männer würden, wenn sie allein in einem Raum sitzen, sich lieber mit einem dort liegenden Stromschockgerät einen Stromstoß versetzen, als sich langweilen zu müssen. Er bezeichnet das als „krass“, und es klingt auch so. Aber wenn man in die Studie hineinschaut, liest man, dass es sich bei den 25 Prozent lediglich um 6 von 24 Frauen handelte, bei den 67 Prozent um 12 von 18 Männern. Es sind also sehr kleine Teilnehmerzahlen, die dann nicht mehr ganz so „krass“ wirken.
Oder Windscheid schreibt, dass bei Frauen mit Brustkrebs die achtsamkeitsbasierten Therapien die Belastung der Diagnose „drastisch“ reduzierten. Schaut man in die Metaanalyse hinein, liest man, dass die Studien überwiegend Frauen in frühen Brustkrebsstadien untersucht haben, also Stadien mit guten Heilungsaussichten. Die Autorinnen und Autoren kommen am Ende außerdem zu dem Schluss, dass die geringe Zahl an untersuchten Teilnehmerinnen es nicht erlaube, die Ergebnisse zu generalisieren. Das ist weit entfernt von „drastisch“.
Anmerkung der Redaktion:
Wir haben Eckart von Hirschhausen, Stefanie Stahl und Leon Windscheid angeboten, sich zu der Kritik hier ausführlich und direkt zu äußern. Ihre Antworten finden Sie in Wie viel Popularisierung verträgt die Psychologie?
Soziale Medien sind voll von selbsternannten Expertinnen und Experten, die psychotherapeutische Tipps geben und Millionen Follower haben. Sie scheinen einen Nerv zu treffen. Wie erklären Sie sich, dass diese „Psychoindustrie“, wie Sie sie nennen, so erfolgreich ist?
Zunächst einmal ist „Einfach“ immer gut. Wenn man einfache Konzepte anbietet, ist das stets verlockend, für uns alle.
Ein weiterer Punkt, warum die Psychoindustrie funktioniert, lässt sich mit Übertragungen erklären. Das ist ein psychoanalytischer Begriff und er bedeutet, dass jeder von uns unbewusste Erwartungen und Wünsche auf andere Menschen überträgt. Damit lässt sich Geld verdienen, indem Personen zum Beispiel idealisiert werden und wir unsere oft unbewussten Wünsche an sie herantragen. Wir schreiben also Personen, die medial auch so aufgebaut werden, gewissermaßen Kräfte zu, uns zu helfen – die sie in der Form aber nicht haben. Dabei geht es der Psychoindustrie oft in erster Linie nicht darum, den Menschen zu helfen, sondern ums Geschäft.
Ist es vielleicht auch gesellschaftlich gewollt, dass es diese Industrie gibt?
Das wäre möglich. Die einen wollen damit Geld verdienen, manche ganz ohne Ausbildung; die anderen sind womöglich auf der Suche nach einer schnellen Lösung.
Viele Angebote behandeln Symptome überdies ganz ausgestanzt, so als hätten sie nichts mit dem früheren und aktuellen Leben des Menschen zu tun. Das ist auch ein Grund, warum solche Inhalte Erfolg haben. Die Krankheitssymptome entstehen aber nicht aus dem Nichts heraus. Sie sind das Ergebnis innerer und äußerer Konflikte. Das bedeutet, dass jemand innere Wünsche und Sehnsüchte hat und gleichzeitig dagegen arbeitende Ängste. Wenn man diesen Konflikt auflösen will, muss man an die Gefühle heran, die aber von den Menschen nicht gewollt sind. Aus diesem Grund hat man ja ein Symptom entwickelt.
Was geschieht stattdessen?
Die Psychoindustrie sagt uns: „Dieses Symptom ist vom Himmel gefallen oder deine Gene verursachen das. Da bieten wir dir eine App oder eine Art Guru an, damit du das bearbeiten kannst.“ Man wird damit aber die Ursache für das Krankheitsanzeichen nicht auflösen. Dennoch wird sich der Mensch zufrieden fühlen, eben weil man nicht an den Kern seines Problems gegangen ist.
Ist das dann aber nicht auch in Ordnung?
Stellen Sie sich das mal auf somatischer Ebene vor: Sie haben einen Infekt, der immer wieder dazu führt, dass Sie ständig krank werden. Man sagt ihnen, dass Sie zwar Antibiotika nehmen könnten, aber im Prinzip der Krankheitsherd herausoperiert werden müsste. Natürlich greifen Sie lieber zum Antibiotikum. Die Angst vor der Operation finde ich nachvollziehbar, letztlich wird man aber um die Operation nicht herumkommen, wenn man die Symptome wirklich loswerden will. So ähnlich ist das auch mit Psychotherapie: Wenn sie professionell gemacht wird, führt das auch zu schmerzhaften Gefühlen. Da ist ein Onlinekurs mit Aufbausätzen natürlich bekömmlicher. Aber eben nicht unbedingt nachhaltig.
Richtet sich so ein Kurs nicht an andere Menschen als Psychotherapie?
Wer sich einfach mal darüber informieren möchte, ist mit so einem Kurs vielleicht gut dran. Ich vermute aber, gerade für solche eher anonymen und damit niederschwelligen Angebote interessieren sich auch Menschen in echter psychischer Not. Es ist zudem wichtig, zu klären, bei wem eine echte psychische Erkrankung mit Therapiebedarf vorliegt. So etwas sollte in einem persönlichen Gespräch geklärt werden, und dafür gibt es psychotherapeutische Sprechstunden.
Noch mal das Stichwort „Aufbausätze“. Sie spielen damit auf die positive Psychologie an.
Die Welt der Affirmationen hat überall Einzug gehalten. Man ist der Meinung, dass es einem hilft, wenn man häufig genug zu sich sagt: „Du bist gut.“ Oder wenn ich etwas Schlimmes erlebt habe, dann sollte ich überlegen, was ich Gutes daraus ziehen kann. Das geht so weit, dass Menschen versuchen, aus ihrer Krebserkrankung etwas Positives zu ziehen. Das ist absurd. Es wäre ja schön, wenn es so einfach wäre. Oft funktioniert es aber nicht. Doch bis man das merkt, hat man vielleicht schon eine Menge Geld dafür ausgegeben. Natürlich gibt es auch Menschen, denen es mit Affirmationen nachhaltig besser geht. Nach dem, was ich in meiner Praxis erlebe, ist das aber nicht die Regel.
Inwiefern begünstigen die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz diesen medialen Boom der Psychologie?
Das spielt eine große Rolle. Die Menschen brauchen jetzt Hilfe und nicht in einem Dreivierteljahr. Dieser Mangel betrifft die gesamte Medizin. Es wurde künstlich festgelegt, wie viele Ärztinnen und Psychotherapeuten für eine Region notwendig sind, und nur so viele wurden zugelassen. Jetzt haben wir die Situation, dass die Zugelassenen vor lauter Arbeit nicht mehr wissen, wohin mit sich.
Hier können selbsternannte Experten und Expertinnen hineingrätschen.
Ja. Als ich studiert habe, konnte man sich an seinem Heimatort mit einer Praxis einfach niederlassen. Das schuf Konkurrenz: Man musste um Patientinnen und Patienten werben, freundlich sein, etwas erklären und zusehen, dass die Menschen sich bei einem wohlfühlen. Das sind alles wichtige Faktoren für die Heilung. Jetzt finden sie Professionelle vor, die völlig gestresst sind, kaum Zeit haben und im Grunde froh sind um jeden, der nicht anruft. Und: Sie müssen nicht mehr werben. Das machen aber die Menschen auf dem freien Psychomarkt. Das sind die Freundlichen, die Netten, die was erklären und sich Zeit nehmen. Und man fühlt sich erst mal wohl – hat aber keine fachkundige Unterstützung.
Welche Probleme sehen Sie denn, wenn nichtfachkundige Menschen versuchen, auf dem Gebiet der Psychotherapie mitzumischen?
Ihnen fehlen elementare Grundlagen. Zuallererst fehlt ihnen eine Ausbildung in der Krankheitslehre. Also: Was gibt es eigentlich für Erkrankungen, wie können die in Erscheinung treten und worauf muss man achten? Und ihnen fehlt eine therapeutische Ausbildung. Angehende Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen therapieren zum Beispiel unter Supervision. Bis zu fünf Jahre behandeln sie erkrankte Personen, während jeder Schritt, den sie machen, von außen beobachtet wird. Zu der Ausbildung gehört auch Selbsterfahrung. Sie müssen also für zahlreiche Stunden selbst zum Patienten werden und das Verfahren am eigenen Leib kennenlernen. Dabei erfahren sie auch, wo ihre Schwierigkeiten liegen, damit sie diese nicht später unbewusst an Patientinnen abarbeiten. Das ist eine der größten Gefahren bei Laienpsychologen: Sie denken, weil Methode XY für sie selbst hilfreich war, muss das auch für alle anderen so sein. Ist es aber nicht.
Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern, damit Psychologie und Psychotherapie nicht zu einer reinen Einnahmequelle werden?
Wir glauben: Wenn Diagnose „Depression“, dann hilft Schema A, B oder C. Es geht verloren, dass vor uns ein Mensch mit individuellen Problemen sitzt. Im Moment hat man den Eindruck, dass man alles vom Computer aus machen können soll. Sicherlich kann das ein Anfang sein, sich überhaupt hilfesuchend an andere zu wenden. Aber es braucht eine echte Beziehung zwischen Menschen, um psychotherapeutisch zu arbeiten.
Und wir müssen verständlicher werden. Da möchte ich uns Psychoanalytikerinnen und -analytiker wirklich in die Pflicht nehmen. Wir haben lange Zeit gedacht, dass es ausreicht, wenn wir uns selbst verstehen. Aber es ist mir ein Anliegen, dass wir unsere Sprache verändern. Ich glaube, dass wir wirklich elementar Wichtiges anzubieten haben, gerade in der heutigen Zeit.
Dr. Diana Pflichthofer ist Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Psychoanalytikerin in Soltau. Ihr Buch Die Psycho-Industrie erschien im Herbst 2024 bei Goldegg.
Lesen Sie außerdem, wie sich Eckart von Hirschhausen, Stefanie Stahl und Leon Windscheid auf die Kritik von Frau Dr. Diana Pflichthofer äußern in Wie viel Popularisierung verträgt die Psychologie?