Herr Dr. Munz, sexuelle Übergriffe in einer Psychotherapie haben wenig bis nichts mit einer normalen Verliebtheit zu tun, auch wenn es sich um Einvernehmen zu handeln scheint. Wie häufig kommt es zu Missbrauchsfällen?
Das ist natürlich schwierig zu beziffern, zumal man von einer relativ hohen Dunkelziffer ausgehen muss. Nach einer Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums wird die Zahl sexueller Übergriffe in der Psychotherapie auf 300 bis 600 jährlich geschätzt. Aufgrund der inzwischen gestiegenen Zahl an psychotherapeutischen Behandlungen dürfte sich diese Zahl vermutlich noch erhöht haben. Es kommt auch heute noch viel zu häufig zu sexuellen Übergriffen in der Therapie. Das ist natürlich indiskutabel.
Meistens wird bei diesem Thema über ambulante Psychotherapien geredet. Wie sieht es in Kliniken aus, insbesondere bei langen Klinikaufenthalten?
Tatsächlich dürften Übergriffe häufiger in ambulanten Therapien vorkommen, aber sexuelle Übergriffe finden auch in Kliniken statt. In Kliniken ist die soziale Kontrolle größer, zum Beispiel dadurch, dass die Klientinnen und Klienten eher mit anderen darüber reden oder sich auch anderen Therapeuten gegenüber ausdrücken können. Das Klinikpersonal wird deshalb zurückhaltender sein, weil ein Übergriff nicht so leicht zu verheimlichen ist. Übrigens betrifft das auch das Pflegepersonal, das ja häufig über den Tag hinweg eine sehr enge Zusammenarbeit mit den Klientinnen und Klienten hat.
Wie kommt es in einer Psychotherapie zu Übergriffen?
Die Übergriffe resultieren aus der sehr speziellen Form der psychotherapeutischen Beziehung und der damit verbundenen Nähe. Viele Klientinnen und Klienten bringen zunächst einmal hohe emotionale Bedürfnisse mit in die Therapie, die im Laufe der Zeit auch immer offener zur Sprache kommen. Diese Gefühle und die dahinterliegenden Bedürfnisse müssen aber psychotherapeutisch bearbeitet werden und dürfen nicht durch den Therapeuten ausgenutzt werden, indem er sexuell übergriffig wird. Das gilt besonders auch dann, wenn die Klientin zustimmen würde.
Hier müssen wir also sehr genau differenzieren, dass das Gefühl des Verliebtseins aufseiten der Klientin oft vor dem beschriebenen Hintergrund psychischer Bedürftigkeit entsteht, das psychotherapeutisch bearbeitet werden muss, aber nicht ausagiert werden darf.
Es gehört zum Kern aller therapeutischen Schulen, mit Emotionen zu arbeiten, sie also auch in einer Offenheit anzusprechen, die sich viele Menschen im Alltag gar nicht trauen. Ist es nicht naheliegend, dass dann auch sexuelle Gefühle und Bedürfnisse im Raum stehen?
Ja, in einer Psychotherapie soll möglichst offen über alles gesprochen werden, auch über das, was sich an Gefühlen zwischen Klient und Therapeut abspielt. Das kann beispielsweise ein Liebesgefühl der Klientin gegenüber dem Therapeuten sein, was erst einmal gar nichts Negatives ist, weil es für die Beziehungsqualität sprechen kann. Dieses Vertrauen dem Therapeuten gegenüber sollte aber therapeutisch genutzt werden, um zu bearbeiten, was die darin verborgenen Wünsche und Bedürfnisse betrifft. So etwas auszudrücken darf niemals als „Einladung“ für sexuelle Handlungen an den Therapeuten verstanden oder interpretiert werden.
Was ist denn ein professioneller Umgang mit so einer Situation, besonders dann, wenn der Therapeut merkt, er verliert zunehmend die Distanz?
Der Therapeut sollte seine Behandlung immer selbstkritisch beobachten und auf Veränderungen achten, zum Beispiel ob er die Stunden überzieht oder in der Therapie über eigene Probleme zu reden beginnt. Dann ist es dringend geboten, dass sich der Therapeut eine Supervision holt und die Situation dort auch bespricht. So kann man gemeinsam überlegen, wie sich die Situation weiterhin in der Therapie bearbeiten lässt. Leider wissen wir, dass sich Therapeuten, die zu Übergriffen neigen, gerade keine kollegiale Hilfe suchen. Sich in schwierigen therapeutischen Situationen aber selbst Hilfe zu holen ist ein Merkmal von Qualität und Qualitätssicherung in der Psychotherapie.
Rund 90 Prozent der Übergriffe gehen von Männern aus. Was macht Männer so anfällig für übergriffiges Verhalten Klientinnen gegenüber?
Das ist ja eine generelle Beobachtung bei sexuellen Übergriffen, so auch in der Psychotherapie und anderen helfenden Berufen. Bestimmte Männer tun sich schwer, ihre sexuellen Bedürfnisse zu kontrollieren, und neigen dazu, die Wünsche der Klientinnen nicht therapeutisch zu bearbeiten, sondern zur Befriedigung eigener Bedürfnisse zu missbrauchen.
Untersuchungen zeigen auch, dass diese übergriffigen Männer sehr stark eine eigene emotionale Bedürftigkeit ausdrücken – gehört diese in eine Psychotherapie?
Viele dieser Psychotherapeuten haben selbst unbewältigte Wünsche nach Nähe, nach Zuwendung oder nach Selbstwerterleben. Andere neigen zu Selbstüberschätzungen und halten sich für zu „wichtig“ für die Klienten. Es handelt sich dabei um Fehleinschätzungen der eigenen Person, manchmal auch um Größenfantasien, auch in dem Sinne, dass sie meinen, die Klientin durch „bessere Sexualität“ mit ihnen „heilen“ zu können.
Es soll auch einen großen Anteil von Männern geben, die sich nicht nur einmal übergriffig verhalten und die Kontrolle verlieren, sondern immer wieder. Stimmt das?
Das zeigt sich in der Tat immer wieder, das können wir von den Kammern aus bestätigen. Dieser Anteil eines wiederholten Missbrauchs ist groß.
Wenn nun eine Klientin merkt, der Therapeut macht ihr eindeutige oder sogar anzügliche Avancen, was sollte sie tun?
Stellt der Therapeut sein Verhalten nicht ein oder versucht er, die Klientin zu verunsichern, sollte diese sich einen anderen Therapieplatz suchen. Bei eindeutigen Äußerungen oder Handlungen sollte die Klientin die Behandlung sofort beenden. Im Zweifelsfall kann sie eine Beratungsstelle oder einen anderen Psychotherapeuten aufsuchen, um sich zu informieren, was sie tun kann.
Den Betroffenen fällt genau dies aber oft nicht leicht, weil sie die Zuneigung, die sie spüren, als angenehm und als persönlichen Zuspruch erleben, sodass manchmal sogar die Symptomatik nachlässt, wegen der sie ursprünglich in die Therapie gegangen sind. Sie erleben eine Art persönlicher Aufwertung dadurch. Aus diesem Grund erkennen die Betroffenen oft zunächst nicht, dass sich ein Übergriff anbahnt.
Welche Rolle spielt es, dass der Therapeut in der psychotherapeutischen Beziehung die Machtposition hat?
Man sollte das Thema Macht in der Psychotherapie nicht verleugnen. Die Klienten sind zunächst einmal diejenigen, die nach Hilfe suchen, und sind damit in der schwächeren Position. Sie sind auch als Persönlichkeiten nicht so stabil, deshalb wünschen sie sich ja eine Psychotherapie. Sie sind emotional bedürftig und möchten Zuwendung. Auch diese Konstellation müssen Psychotherapeutinnen und -therapeuten professionell reflektieren.
Nun hat die sexuell bedrängte Person vielleicht Skrupel, das Verhalten des Therapeuten öffentlich zu machen. Welche sind denn die rechtlichen Konsequenzen eines sexuellen Übergriffs?
Es handelt sich nach Paragraf 174 des Strafgesetzbuches um eine Straftat, die die Staatsanwaltschaft von sich aus verfolgt. Nach der Berufsordnung sind sexuelle Übergriffe verboten und kammerrechtlich strafbar. Deshalb können sich Betroffene an die Psychotherapeutenkammer wenden oder, sofern es sich um ärztliche Therapeuten handelt, an die Ärztekammer. Auch dort werden diese Fälle untersucht und berufsrechtlich verfolgt. Da es sich um eine Straftat handelt, schalten dann die Kammern die Staatsanwaltschaft ein.
Nicht fachgerechtes Handeln in Psychotherapien wird ohnehin auch von den Landeskammern geahndet. Dafür haben alle Kammern eine Berufsgerichtsbarkeit und können Strafen verhängen. Das geht so weit, dass die Approbationsbehörde informiert wird und diese prüft, ob die Approbation entzogen werden muss. Dann kann diese Person nicht mehr als Psychotherapeut arbeiten.
Was können die Kammern darüber hinaus tun?
Wir bieten Fortbildung zu dem Thema an, um präventiv zu arbeiten. Diese Fortbildungen werden auch sehr gut besucht. Dennoch – ich will das nicht verschweigen und habe das ja auch schon angedeutet – stellen wir fest, dass gerade die meisten jener Therapeuten, denen Übergriffe nachgewiesen worden sind, solche Angebote zuvor eben auch nicht angenommen hatten. Diese haben zudem oft kaum Schuldbewusstsein und setzen sich mit ihrem Verhalten nicht selbstkritisch auseinander. Diese Personengruppe ist präventiv schwer erreichbar.
Das heißt, um hier möglichst frühzeitig reagieren zu können, müssten sich Klientinnen auch wirklich melden und die örtlichen Kollegenkreise müssten sich einschalten, wenn sie beispielsweise bei einem Therapeutenwechsel etwas erfahren?
Für psychotherapeutische Kolleginnen und Kollegen besteht da ein Dilemma: Einerseits besteht die Schweigepflicht für alles, was ein Therapeut in einer Psychotherapie erfährt, auch über den Missbrauch; andererseits stellt sich die Frage, wie jemand vorgehen soll, wenn er von einer möglichen Straftat erfährt. Alles weitere Vorgehen hängt davon ab, ob die Klientin auch selbst möchte, dass das Fehlverhalten geahndet wird, den Therapeuten von der Schweigepflicht entbindet und dann als Zeugin zur Verfügung steht. Allerdings gibt es viele Gründe, warum die Betroffenen ein Verfahren oft nicht wollen. Das heißt, Betroffene scheuen häufig davor zurück, offen aufzutreten und als Zeugen zur Verfügung zu stehen. Da spielt unter anderem Scham eine große Rolle, immer wieder auch die Angst, den Therapeuten beruflich zu ruinieren.
Warum gibt es keine Möglichkeit, einem Anfangsverdacht nachzugehen, wenn eine Klientin anonym bleiben möchte?
Das ist eine Frage unseres Rechtssystems. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Kammern müssen die Betroffenen als Zeugen oder als Kläger des Geschehens befragen. Das geht nicht anonym. Ein zweites Problem ist, dass die Kammern kein Recht haben, Beweise einzuholen, das heißt Einsicht in Akten oder Mailwechsel und Ähnliches zu erzwingen, dazu müssten sie die Staatsanwaltschaft veranlassen.
Es kommt hinzu, dass viele dieser Personen, vorrangig Frauen, schon entsprechende Vorerfahrungen haben machen müssen, zum Beispiel Vergewaltigungen oder früheren sexuellen Missbrauch. Eine fatale Situation, die nun auch noch zum Wegfall des Vertrauens in professionelle Hilfe führt.
Ja, das bestätigen leider auch die Forschungen. Vielfach handelt es sich um Wiederholungen früherer Erfahrungen.
Aber was gebe es denn für vorjuristische Möglichkeiten, auch für die Kammern?
Die Kammer könnte dies der Staatsanwaltschaft mitteilen, dann muss die Staatsanwaltschaft entscheiden, was sie tut. Die Kammer selbst kann nur den betroffenen Therapeuten zu den Vorwürfen befragen, jedoch keine Ermittlungen für Beweise durchführen. Ist der Kammer die betroffene Klientin bekannt, könnte sie nachfragen, ob diese eine Beschwerde einreichen möchte. Gegebenenfalls kann und sollte in einer Folgetherapie thematisiert und darauf hingearbeitet werden, dass die Frau sich schließlich traut, als Zeugin oder Klägerin aufzutreten.
Aber warum gibt es beispielsweise keine Ombudsleute, die bei einer auch anonymen Meldung das kollegiale Gespräch suchen?
Als öffentliche Körperschaften sind die Kammern an enge rechtliche Bedingungen gebunden. Trotzdem könnte man nach solchen Möglichkeiten suchen und in Abstimmung mit den Aufsichtsbehörden die rechtlichen Wege ergänzen, zumal die Kammergesetze in den Bundesländern durchaus verschieden sind. Bisher kann die Anhörung eines Kollegen nur stattfinden, wenn etwas justiziabel, also belegbar, ist und die Vorwürfe konkret benannt sind. Ich könnte mir aber vorstellen, dass man jemanden etwa vor die jeweilige Ethikkommission lädt, sofern es sie gibt. Natürlich sind all diese Regeln nicht in Granit gemeißelt, da gibt es sicherlich Verbesserungsmöglichkeiten.
Wie gehen denn Kliniken mit entsprechenden Hinweisen um?
In einer Klinik müsste der Chefarzt, wenn er von einem solchen Vorfall hört, den Kollegen zu sich beordern und ihn mit dem Vorwurf konfrontieren. Ein Chefarzt müsste deutlich machen, dass eine Klinikleitung so etwas sehr genau beobachtet und auch zu Sanktionen schreiten würde. Auch hier wäre der letzte Schritt, die Staatsanwaltschaft zu informieren. Ich würde das von einer Klinik erwarten.
Kommt in den psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten das Thema der sexuellen Übergriffigkeit hinreichend vor?
Dieses Thema ist in den Curricula enthalten, und zwar schon generell der Umgang mit einer sexualisierten Atmosphäre in Therapien. Es muss auch unbedingt ein Thema in der Ausbildung sein, sonst wäre es ein schlechtes Ausbildungsinstitut.
Würden Sie einer Frau, die bereits sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen erlebt hat, raten, zuerst in die Psychotherapie bei einer Frau zu gehen?
Das würde ich in dieser Generalisierung nicht sagen. Es kann aber aus vielen Gründen sinnvoll sein, mit solchen Vorerfahrungen zuerst zu einer Therapeutin zu gehen, ja. Den Betroffenen gelingt es oft gegenüber einer Frau besser, sich emotional zu öffnen und über das Erlebte zu sprechen. Es kann aber auch sehr hilfreich sein, sich darüber mit einem Mann auseinanderzusetzen, sodass die betroffenen Frauen dann unmittelbar einem Mann gegenüber ihre Aggressionen und ihre Wut zum Ausdruck bringen können. Alles in allem kann man vielleicht sagen, dass diese Frauen zuerst zu einer Frau in Psychotherapie gehen und anschließend noch mal zu einem Mann wechseln. Für Therapeuten ist es dann außerordentlich wichtig, die Distanz zu wahren, das aufkommende Vertrauen nicht zu missbrauchen.
Dr. Dietrich Munz ist Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer und zugleich der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg.
Monika Becker-Fischer, Gottfried Fischer: Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie. Orientierungshilfen für Therapeut und Klientin. Asanger, Kröning, 2014