Sie haben vor kurzem ein E-Learning-Programm entwickelt, das Psychotherapeutinnen und Ärzte im Umgang mit Patienten mit extremistischen Einstellungen unterstützen soll. Was war Ihr Beweggrund?
Der Anlass war eine Studie, in der wir zeigen konnten, dass ein Großteil der befragten Ärztinnen und Therapeuten Erfahrungen mit zumindest einer Patientin oder einem Patienten hatte, die oder der sich links- oder rechtsextremistisch, islamistisch oder verschwörungsideologisch geäußert hatte.
Die Personen sagten im Zusammenhang mit Covid-Impfungen beispielsweise: „Der Staat will uns alle vergiften“, oder: „Die Auswanderer bedrohen uns“, wie man es aus dem Rechtsextremismus kennt, oder sie äußerten extremistisch begründete Fantasien, alle umzubringen.
Die Patientinnen kommen aber ja in der Regel nicht wegen ihres extremistischen Gedankenguts in Therapie.
Nein, die Personen haben zunächst mal die gleichen psychischen Probleme oder Erkrankungen wie andere auch. Im Laufe der Zeit kann sich aber herausstellen, dass ihre Hinwendung zu einer Ideologie für die Therapie bedeutsam ist, beispielsweise wenn sie ein dysfunktionaler Versuch ist, mit psychischen Problemen umzugehen. So fühlen sich manche Menschen, die schwer Anschluss finden oder in einer persönlichen Krise sind, zu extremistischen Gruppen oder Netzwerken hingezogen, weil diese ihnen Halt bieten.
Wenn man Mitglied einer extremistischen Gruppe ist, können aber auch Probleme entstehen, etwa durch die Konfrontation mit Gewalt. Dann kommen manche eben wegen dieser Belastungen in die Behandlung. Hinter extremistischen Äußerungen können sich außerdem manchmal affektive oder wahnhafte Störungen verbergen.
Wie gehen Psychotherapeutinnen denn am besten mit extremistischen Aussagen um?
Sie brauchen Grundwissen darüber, aus welchen Motiven heraus sich Menschen Ideologien zuwenden und was für emotionale und soziale Konsequenzen das hat. Hinter extremistischen Äußerungen steht beispielsweise oft ein intensives Gefühl des Verlustes oder der Ausgrenzung, bis hin zu einem Gefühl, sich dagegen verteidigen zu müssen.
Behandelnde sollten sich nicht auf eine inhaltliche Debatte einlassen, sondern versuchen herauszufinden, welche persönliche Bedeutung die Aussagen für die Person haben, und alternative Sichtweisen anbieten. Vor allem in Gruppentherapien oder auf psychiatrischen Stationen muss man aber auch eingreifen, wenn T-Shirts oder Pullover mit einschlägigen, beispielsweise rechtsextremistischen Symbolen getragen werden. Dafür braucht man Wissen über die Bedeutung dieser Symbole.
Bei aggressiven Äußerungen geht es um eine differenzierte Einordnung, ob eine reale Bedrohung besteht. Eine Drohung ist nicht gleich eine Drohung und Mordfantasien bedeuten nicht automatisch, dass die Person wirklich beabsichtigt, jemanden umzubringen.
Und wenn doch?
Therapeutinnen müssen erkennen, ob hinter Äußerungen konkrete Handlungsabsichten stecken. In Therapien gab es schon Hinweise auf konkrete Tatabsichten im Umfeld von Patientinnen und Patienten. Dann ist Rücksprache im Team oder auch mit einer Fachberatungsstelle sinnvoll; gegebenenfalls müssen die Sicherheitsbehörden eingeschaltet werden.
Marc Allroggen ist Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und Leiter der Institutsambulanz und Forensik am Universitätsklinikum Ulm.
Quellen
Thea Rau u.a.: Einstellung von Fachkräften aus den Heilberufen zum Thema Extremismus und zu Behandlungsoptionen. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 2023. DOI: 10.1055/a-2085-4502
Thea Rau u.a.: Erfahrungen mit Gefährdungssituationen in Psychiatrie und Psychotherapie bei Patienten mit extremistischer Einstellung. Der Nervenarzt, 2023. DOI: 10.1007/s00115-023-01469-5