Professor Christie, was kann Wladimir Putin aus psychologischer Sicht zum Einmarsch in die Ukraine bewogen haben?
Fachleute für internationale Beziehungen, die einen realpolitischen Standpunkt vertreten, argumentieren, dass Putin sich durch die NATO-Erweiterung bedroht fühlte. Er wähnte sich in die Enge getrieben und hat um sich geschlagen. Da ist meiner Meinung nach etwas dran, denn aus psychologischen Untersuchungen wissen wir, dass situative Kräfte einen starken Einfluss auf das menschliche Verhalten haben. Auch das Gefühl von Bedrohung spielt eine große Rolle.
Diese zwei Erklärungsansätze begrüße ich, weil sie der Versuchung widerstehen, den Einmarsch in die Ukraine mit Putins Persönlichkeit zu erklären. Etwa mit Annahmen, Putin sei ein bösartiger Mensch. Wir neigen generell dazu, das Verhalten anderer mithilfe ihrer Wesenszüge zu erklären – und ignorieren die starken Einflüsse der jeweiligen Situation. In der Psychologie spricht man von einem fundamentalen Attributionsfehler.
Also sehen Sie im Bedürfnis nach Sicherheit das Hauptmotiv für Putins Überfall?
Ich halte es für ein Motiv – andere Beweggründe kommen sicherlich hinzu. Dazu gehört vielleicht der Verlust des Supermachtstatus. Hier könnten eine Form von Nostalgie und die Sehnsucht nach dem russischen Imperium im Spiel sein. Auch Ideologie spielt vermutlich eine Rolle. Wir wissen, dass Putin von dem Philosophen Iwan Iljin aus der Revolutionszeit begeistert ist. Iljin befürwortete die russische Monarchie. In diesem Sinne könnte Putin den Wunsch hegen, ähnlich den großen Zaren in die Geschichte einzugehen.
Hinzu kommt, dass Putin höchstwahrscheinlich eine Reihe von falschen Vorstellungen von der Ukraine hatte – etwa, dass die Menschen dort keine starke nationale Identität besitzen und das russische Militär mit Blumen statt mit Molotowcocktails begrüßen würden. Aber menschliches Verhalten ist kompliziert, sodass wir grundsätzlich skeptisch sein sollten, wenn Politiker und Politikerinnen behaupten, sie würden Putins Beweggründe kennen und verstehen.
Auch in politischen Kommentaren in den Medien wird oft versucht, Putins Verhalten psychologisch zu erklären.
Ich finde solche Analysen ärgerlich. Die Kommentierenden scheinen zu glauben, Psychologie sei nicht mehr als gesunder Menschenverstand. Aber wohl jeder Verhaltenswissenschaftler, der ein Experiment mit Freiwilligen durchgeführt und versucht hat, das Ergebnis vorherzusagen, hat sehr wahrscheinlich eine ernüchternde Erfahrung gemacht. Verhalten ist kompliziert.
Deshalb halte ich politische Kommentatoren und Kommentatorinnen für anmaßend. Ihre Interpretationen sind aber nicht nur ärgerlich. Manche von ihnen können gefährlich sein, wenn sie das Gehör von Regierenden finden. Angesichts der Komplexität des menschlichen Verhaltens sollten die Kommentierenden mehr Bescheidenheit und Zurückhaltung an den Tag legen.
Wie schätzen Sie als Psychologe Putins psychische Verfassung ein?
Mit Diagnosen aus der Ferne möchte ich mich hier zurückhalten. Schließlich wissen wir nur bedingt etwas über Putin als Person. Er scheint kriegerisch zu sein – aber wir wollen nicht in die Falle des fundamentalen Attributionsfehlers tappen, den ich bereits erwähnt habe. So viel sei gesagt: Ausgehend von den begrenzten Quellen sehe ich keine Beweise dafür, dass Putin unter einer psychischen Störung leidet.
Er scheint mir ein rationaler Akteur, der sich stark verrechnet hat. Er hegte wahrscheinlich die Annahme, dass er durch die Invasion in der Ukraine mehr zu gewinnen als zu verlieren hat. Dennoch vermute ich, dass Putin als rationaler Akteur im Gegenzug für die Beendigung des Krieges ein sehr gutes Angebot verlangen wird.
Wie sollten die westlichen Regierenden Putin und sein Verhalten betrachten, um die Beilegung des Krieges zu fördern?
Es ist zwar schwer zu schlucken, aber: Es ist wichtig, Putin als Person zu sehen – trotz seiner Taten. Man sollte ihn als rationalen Menschen betrachten, der sich momentan in seinen Optionen womöglich stark eingeschränkt fühlt. Wir wissen zwar nicht, wie verletzlich er sich fühlt, aber wir sollten ihn grundsätzlich nicht in die Ecke drängen und ihn so verzweifelt zurücklassen, dass er glaubt, er habe nichts zu verlieren, wenn er zu extremen Maßnahmen greift.
Wir sollten vermeiden, Putin das Gefühl zu geben, er stünde mit dem Rücken zur Wand. Wir sollten stattdessen davon ausgehen, dass er trotz seines Gebarens letztlich verhandeln wird.
Liefert die Friedenspsychologie weitere Empfehlungen, wie man mit einem kriegerischen Akteur wie Putin umgehen sollte?
In der Friedenspsychologie beobachten wir im Grunde immer dieselben Schritte: Gewalt bricht aus und führt zu einer untragbaren Pattsituation, worauf Verhandlungen folgen, die zu einem Kompromiss führen. Die meisten friedenspsychologischen Untersuchungen deuten darauf hin, dass psychologisch fundierte Interventionen am nützlichsten sind, bevor die Gewalt beginnt – und nachdem der Kompromiss gefunden wurde. Was es derzeit in der Ukraine braucht, sind weitere Verhandlungen.
Verhandeln mit dem Aggressor?
Die Friedenspsychologie geht davon aus, dass Kommunikation eine notwendige – wenn auch nicht hinreichende – Bedingung für unser gegenseitiges Verständnis und damit für den Frieden ist. Zu Beginn des Krieges in der Ukraine war ich sehr besorgt über den Mangel an Kommunikationskanälen zwischen den Kriegsakteuren. Ich glaube jedoch, dass jetzt einige Kanäle geöffnet sind. Das ist wichtig, nicht nur um das Risiko einer Eskalation zu schmälern, sondern auch, um stets die Tür für Lösungsverhandlungen offen zu halten.
Außerdem legt die Friedenspsychologie nahe, dass es wichtig ist, Empathie für den Gegner aufzubringen – was natürlich extrem schwierig ist. Allerdings ist hier unter Empathie die Fähigkeit gemeint, sich in die Perspektive des Gegners hineinzuversetzen. Empathie meint hier nicht, emotional mit ihm mitzufühlen. Diese „Perspektivenübernahme“ ist wichtig für erfolgreiche Kommunikation. Sie fördert die Suche nach Ergebnissen, die für beide Seiten vorteilhaft sind, und den Werten und Bedürfnissen beider Akteure entsprechen.
Sind die Sanktionen gegenüber Russland aus Sicht der Friedenspsychologie ein nützliches Instrument?
Sie könnten in diesem Fall funktionieren, aber ich bin skeptisch. Eine meiner Sorgen ist, dass die zielgerichtete Wirksamkeit von Sanktionen generell überbewertet wird. Dabei wissen wir, dass die Sanktionen während der Annexion der Krim kaum Auswirkungen auf die russischen Oligarchen hatten. Viele von ihnen konnten die Verluste durch lukrative Regierungsaufträge für Infrastrukturprojekte sogar wieder ausgleichen. Das Sanktionsregime ist dieses Mal zwar viel einschneidender.
Aber ich glaube, wir überschätzen die Auswirkungen auf die Oligarchen – und unterschätzen die Auswirkungen auf die russische Bevölkerung, auf deren Gesundheit und Wohlbefinden. Auch sind die Sanktionen gegenüber Russland ungeeignet, die Herzen und Köpfe der russischen Bevölkerung zugunsten des Westens zu gewinnen. Es wird lange dauern, bevor wir die psychologischen Auswirkungen des Sanktionsregimes eingehend beurteilen können. Aber ich denke, dass die Sanktionen unbeabsichtigte Folgen haben werden – wie alle Zwangsmaßnahmen.
Empfiehlt man in der Friedenspsychologie bei gewaltsamen Konflikten generell eher Zuckerbrot statt Peitsche, also Kompromissangebote statt Sanktionen?
Es mag überraschen, aber meine Kolleginnen und Kollegen sind nicht einer Meinung, wenn es um die Frage geht, ob es am besten ist, „Frieden durch Stärke“ oder „Frieden durch Kooperation“ anzustreben. Einige der Begründer der Friedenspsychologie kämpften im Zweiten Weltkrieg und betrachteten diesen Krieg und ihre Teilnahme daran als gerecht und notwendig. Andere sind pazifistisch und wieder andere liegen irgendwo dazwischen.
Ich neige zum pazifistischen Ende des Kontinuums. Ein allgemeiner, aber wichtiger psychologischer Grundsatz lautet, dass Zuckerbrot zu vorhersehbareren Ergebnissen führt als die Peitsche, wobei letztere fast immer eine ganze Reihe unbeabsichtigter und potenziell negativer Folgen nach sich zieht. Aber politischen Eliten fällt es schwer, diese Lektion zu lernen, insbesondere wenn sie ein Machtmonopol haben.
Das gilt selbst in politischen Systemen, die für das Volk und vom Volk geschaffen wurden – nicht zuletzt, weil Eliten innenpolitisch punkten können, wenn sie in bestimmten Situationen Härte und Kompromisslosigkeit zeigen.
Welche langfristigen Auswirkungen des Russisch-Ukrainischen Krieges halten Sie für wahrscheinlich und besorgniserregend?
Die vielleicht besorgniserregendste Auswirkung ist der Wandel im politischen Denken, den der Russisch-Ukrainische Krieg hervorrufen kann. Er signalisiert nämlich den Rückfall in eine Zeit, in der ein Land beschließen konnte, in sein Nachbarland einzufallen und es von der Weltkarte zu tilgen.
Außerdem beunruhigt mich, dass dieser Krieg wahrscheinlich die Überzeugung stärkt, Kriege seien generell unvermeidbar. Das ist bedauerlich, weil es impliziert, dass der Mensch generell zu Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen neigt – und es zum Ausdruck bringen muss.
Sind Gewalt und Krieg nicht etwas elementar Menschliches?
Wenn wir über die menschliche Natur sprechen, sollten wir an die von der UNESCO einberufene Kommission von 1986 denken. Die multidisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen setzte sich mit dieser Frage auseinander und erarbeitete die „Erklärung von Sevilla“. Die Forschenden legen darin explizit dar, dass Gewalt kein Naturgesetz ist.
Wissenschaftlich unhaltbar sei die Annahme, dass aggressives Verhalten sich im Lauf der menschlichen Evolution gegenüber anderen Verhaltensweisen durchgesetzt hat. Der Konsens unter den Beteiligten lautete: Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem biologischen Potenzial des Menschen, Krieg zu führen, und der Unvermeidbarkeit von Krieg. Krieg ist vermeidbar. Dieser Gedanke entspricht der Friedenspsychologie.
Ist die Idee eines dauerhaften Friedens angesichts des biologischen Potenzials des Menschen realistisch – oder ist Frieden grundsätzlich kurzlebig und zerbrechlich?
Ein dauerhafter Frieden ist ebenso menschliches Potenzial wie der wiederkehrende Krieg. Wir haben allerdings noch nicht gelernt, den Bedingungen, die Frieden schaffen und erhalten, genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Wir neigen dazu, den Frieden zu vergessen und ihn für selbstverständlich zu halten – bis es zu einem Gewaltausbruch kommt. Wir haben viel bessere Chancen, einen dauerhaften Frieden zu sichern, wenn wir die Bedingungen schaffen, die den Frieden nach der Beendigung eines Krieges oder eines gewaltsamen Konflikts langfristig begünstigen.
Etwa indem wir feststellen, wer sich infolge der Gewaltakte gedemütigt und wer sich im Recht fühlt, weitere Gewalttaten zu initiieren. Dies sind psychologische Zustände und kollektive Überzeugungen, die mit vielen Emotionen verbunden sind und nicht ignoriert, sondern aufgearbeitet werden sollten. Doch wie ich bereits sagte, neigen wir dazu, Frieden als zu selbstverständlich zu nehmen und zu wenig in ihn zu investieren. Es überrascht mich auch nicht, dass wir auf internationaler Bühne grundsätzlich wenig Einsatz und Engagement zugunsten eines langfristigen Friedens beobachten.
Das ist schwierig, wenn die verschiedenen Länder und Akteure einander innerhalb bestimmter Ideologien und als Feindbilder betrachten. Aber gerade diese komplizierten und spannungsreichen Beziehungen bedürfen der größten Aufmerksamkeit, wenn wir Wert auf langfristig friedliche Beziehungen legen. Als Einstieg in einige der Bedingungen, die einen nachhaltigen Frieden begünstigen, können wir uns die 17 UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung ansehen.
Wie hat sich die Friedenspsychologie eigentlich entwickelt?
Die American Psychological Association (APA) hat 54 Interessengruppen, die von ihren Mitgliedern organisiert werden. Die Abteilung 48 widmet sich der Friedenspsychologie und wurde 1990 gegründet. Wie viele andere Kolleginnen und Kollegen wollte ich mich an dieser Initiative beteiligen, die aufzeigen sollte, welche Rolle die Psychologie in Fragen von Krieg und Frieden spielt und spielen sollte.
Die Förderung des Friedens erschien mir angesichts der damaligen Spannungen in den Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion und der Gefahr eines Atomkriegs besonders wichtig. Zu dieser Zeit gab es nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Australien Bestrebungen, friedenspsychologische Forschung einzurichten. Viele von uns waren in anderen Fachgebieten der Psychologie ausgebildet.
Ich war Entwicklungspsychologe und meine Forschung führte mir vor Augen, dass ein möglicher Atomkrieg damals die größte Angst amerikanischer Kinder war – auch meiner eigener. Als die Bedrohung durch einen Atomkrieg in den 1990er Jahren abzunehmen schien, wandten sich die Friedenspsychologen dem Problem der ethnopolitischen Konflikte zu. Diese Konflikte haben oft tiefe kulturelle und strukturelle Wurzeln. Daher widmet sich die Friedenspsychologie heute sowohl physischer als auch struktureller Gewalt, und versucht beide zu verhindern oder zu schmälern.
Wir sind von verschiedenen Formen von Gewalt umgeben – in was für einem Frieden leben wir also?
Johan Galtung, der Begründer der transdisziplinären Friedens- und Konfliktforschung, unterscheidet zwischen negativem Frieden, den er als die Abwesenheit von Krieg definiert, und positivem Frieden. Der positive Frieden ist laut Galtung das Vorhandensein von Bedingungen, die Frieden schaffen und erhalten.
Wir befinden uns derzeit sicherlich nicht in einem Zustand des positiven Friedens. Auf der Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen herrscht in der Welt weitgehend negativer Frieden, aber wenn man auf andere Analyseebenen blickt – etwa auf die gesellschaftliche, gruppenübergreifende und zwischenmenschliche – , ergibt sich ein stark durchmischtes Bild.
Wie können wir alle zum Frieden beitragen?
Ich würde mir wünschen, dass jede und jeder Einzelne mehr darauf achtet, die Bedingungen zu schaffen, die einen nachhaltigen Frieden begünstigen. Dafür wäre es wichtig, die Kommunikation und das Verständnis zwischen verschiedenen Kulturkreisen zu fördern. Es gibt viele Gruppen in den USA und sicherlich auch in Deutschland, die sich für die Verbesserung interkultureller Beziehungen einsetzen. Engagement in diesen Gruppen würde ich allen ans Herz legen.
Kommunikation mit Menschen anderer Gesinnungen und Überzeugungen suchen und etablieren; die Perspektivenübernahme fördern; gemeinsame Ziele formulieren und zusammen auf sie zuarbeiten: Das sind kleine Schritte, die Großes bewirken können.
Dan Christie ist emeritierter Psychologieprofessor an der Ohio State University. Seine Forschungsschwerpunkte sind Frieden, Konflikte und soziale Gerechtigkeit. Er ist Gründer und Herausgeber der Buchreihe Peace Psychology, die derzeit 35 Bände umfasst, sowie Herausgeber der dreibändigen Encyclopedia of Peace Psychology. Als Fulbright-Specialist für Friedens- und Konfliktstudien hat er die Friedenspsychologie in Indien und Pakistan eingeführt. Als Gastprofessor unterrichtete er friedenspsychologische Kurse und Workshops, etwa in Australien, Kanada, Indien, Malaysia und Südafrika.