Die deutsche Gesellschaft sei von „rechtsextremen Einstellungen durchzogen“. Außerdem sei die Bereitschaft vieler nachweisbar, andere abzuwerten. Zu diesem Fazit kommt die Forschergruppe um Oliver Decker und Elmar Brähler in der aktuellen „Leipziger Mitte-Studie“. Seit 2002 erheben die Wissenschaftler darin die Verbreitung rechter Gedanken in Deutschland. Für die aktuelle Auflage mit dem Titel „Flucht ins Autoritäre“ hatten die Forscher 2018 knapp 2500 Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft interviewt.
Laut Studie liegt der Anteil der Befragten mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild bei derzeit etwa sechs Prozent, dies ist in etwa so hoch wie bei den vorangegangenen Erhebungen, aber um ein paar Prozent geringer als im Jahr 2002. Zugleich sei die Anzahl der Teilnehmer, die fremdenfeindlichen Aussagen zustimmten, jedoch deutlich auf 24 Prozent gestiegen. Noch im Jahr 2018 sind überdies laut Studie 10 Prozent der Deutschen der Ansicht: „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß.“ Darüber hinaus gebe es weiterhin bei etwa 20 Prozent der Bevölkerung verborgene antisemitische Vorurteile und Ressentiments.
Den Kern der Untersuchung bilden insgesamt 18 Aussagen, zu denen die Befragten Stellung beziehen sollen – etwa „Die Deutschen sind anderen Völkern von Natur aus überlegen“ oder „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“. Die Sätze decken unterschiedliche Dimensionen des Rechtsextremismus wie Ausländerfeindlichkeit, Chauvinismus, Antisemitismus oder die Einstellung zur NS-Zeit ab. Zeigen Befragte in allen diesen Kategorien hohe Zustimmung, nehmen die Forscher an, dass sie ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben.
Geringe Bildung ist nur einer der Risikofaktoren
Die Ergebnisse dokumentieren, dass sich rechte Einstellungen in Deutschland nicht auf die gesellschaftlichen Ränder beschränken. So sind es nicht etwa nur die ökonomisch Abgehängten, die gegen Fremde Stimmung machen und nach einem starken Führer rufen. Die Wissenschaftler vermuten, dass mangelnde Bildung die Neigung zu solchen Einstellungen verstärkt. Rechnet man diesen Bildungseffekt jedoch aus den Daten heraus, spielen Arbeitslosigkeit oder ein niedriges Haushaltseinkommen für die Entwicklung rechter Ansichten keine Rolle. Mangelnde Bildung ist nur ein Risikofaktor unter mehreren. So gaben auch fast 13 Prozent der Befragten, die ihre Schullaufbahn mit dem Abitur abgeschlossen hatten, ein ausländerfeindliches Weltbild zu Protokoll.
Die Folgen des Braindrain
An einem anderen Punkt relativieren die Studienergebnisse Vorstellungen wie die, dass es im Osten Deutschlands größere Probleme mit Rechtsextremismus gebe. Vordergründig verfügen tatsächlich 8,5 Prozent der Ostdeutschen über ein geschlossen rechtsextremes Weltbild, während es im Westen nur 5,4 Prozent sind. Aber dies hat wohl mit Ost oder West wenig zu tun: „Das hängt wesentlich mit einem Phänomen zusammen, das wir als Braindrain bezeichnen: dem Wegzug vor allem gut ausgebildeter Frauen in den Westen“, erklärt Oliver Decker, einer der Autoren der Studie, und ergänzt: „Dadurch wird im Osten die Alltagskultur öfter durch Männer mit schlechterer Ausbildung und entsprechend geringeren beruflichen Möglichkeiten geprägt – einer Gruppe also, die drei wesentliche Risikofaktoren für rechte Einstellungen in sich vereint.“
Autoritär und ausgeliefert zugleich
Die stärkste Auswirkung auf die innere Kompassnadel hat aber wohl die Persönlichkeitseigenschaft, die die Wissenschaftler „Autoritarismus“ nennen. Sie beschreibt, wie sehr Menschen ein hartes Durchgreifen des Staates bei Regelverstößen befürworten und wie groß andererseits ihre eigene Bereitschaft ist, sich anderen unterzuordnen. Eine ausgeprägte autoritäre Gesinnung geht der Erhebung zufolge häufig mit rechtsextremen und demokratiefeindlichen Ansichten einher. Doch was ist seinerseits die Ursache für Autoritarismus? Decker und seine Kollegen konnten in ihrer Analyse vor allem zwei Einflussfaktoren belegen: Zum einen ging hohe Zustimmung zu rechten Meinungen einher mit der Erinnerung an einen Erziehungsstil, der durch harte Strafen, Überforderung sowie durch fehlende emotionale Nähe geprägt war. Und zweitens zählen die Autoren das bei diesen Befragten häufige Gefühl dazu, einem Staat ausgeliefert zu sein, der als autoritär erlebt wird. Ob es für diese Wahrnehmung objektive Gründe gibt, bleibt offen.
Insgesamt zeigte sich etwas mehr als die Hälfte aller Befragten der Leipziger Mitte-Studie nicht zufrieden damit, wie „die Demokratie in Deutschland funktioniert“. Wohl aber wird die Demokratie so, wie sie in der deutschen Verfassung verankert ist, von mehr als 70 Prozent positiv gesehen, und eine sehr große Mehrheit befürwortet die Demokratie als Idee. Die Autoren weisen darauf hin, dass mit dem Begriff Demokratie unterschiedliche Vorstellungen verbunden sein können, etwa hinsichtlich der Frage, ob eine direkte Demokratie mit Volksentscheiden für wünschenswerter gehalten wird als eine repräsentative.
Literatur
Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Psychosozial, Gießen 2018
https://tinyurl.com/PH-Leipziger-Mitte