Mit anderen verbunden zu sein ist ein menschliches Grundbedürfnis, fast wie Essen. Fehlt es uns an Nahrung, werden wir hungrig. Fehlt es uns an Verbundenheit, werden wir einsam. Doch woraus resultiert dieser Mangel an zwischenmenschlicher Tuchfühlung?
Dieser Frage ging jetzt ein Team um Eileen Graham von der Northwestern University in einer großen Datenanalyse nach. Es flossen die Ergebnisse von neun Längsschnittstudien mit insgesamt 128118 Personen aus 20 Ländern ein, darunter Deutschland. Fünf Einsamkeitsrisiken kristallisierten sich heraus.
1 Alter
Verfolgt man die Einsamkeit über den Lebenslauf hinweg, dann formt sie ein U. Sie startet hoch in der Jugend und den jungen Erwachsenenjahren, fällt dann stetig ab und erreicht etwa Anfang vierzig eine Ebene, bevor sie ungefähr mit siebzig erst sachte, dann im hohen Alter stärker steigt und bis zum Tod nicht mehr fällt. „Dieses Muster hatte über die neun heterogenen Studien von vielen Nationen hinweg Bestand“, stellten Graham und ihre Mitforschenden fest.
Die Einsamkeit in den jungen Jahren erklärt die Forschung meist mit den schwierigen und verunsichernden Entwicklungsaufgaben, die in dieser Lebensphase anstehen: Aufbruch aus dem elterlichen Nest, beruflich Tritt fassen, eine Beziehung eingehen, die Bestand hat, vielleicht eine Familie gründen, seine Rolle im Leben finden. Wenn alles gutgeht, ist dann in der Lebensmitte ein solides soziales Netz geknüpft: Auf der Arbeit, in der Familie und im Freundeskreis – Menschen mittleren Alters sind oft von Personen umgeben, die ihnen lieb oder zumindest vertraut sind.
Diese Einbindung lässt mit dem Alter nach. Zuerst reißen mit dem Renteneintritt die beruflichen Kontakte ab, dann dünnt mit den Jahren das Netz der nahestehenden Menschen aus. Und die nachlassende Mobilität macht es schwer, sich mit den verbleibenden zu treffen. Was zum nächsten Punkt führt:
2 Soziale Isolation
Ja, es stimmt schon: Man kann oft und lange allein sein, ohne sich deshalb einsam zu fühlen. Und man kann sich umgekehrt mitten in der Gruppe und umgeben von anderen als schmerzlich isoliert empfinden. Dennoch hängt die Einsamkeit eines Menschen sehr wohl mit der Dichte seines sozialen Netzes zusammen, wie die Metastudie nun bekräftigte.
Besonders ein Ereignis erwies sich als folgenschwer: der Verlust des Partners oder der Partnerin – sei es durch Verwitwung oder Scheidung. Selbst Menschen, die nie verheiratet waren, hatten ein erhöhtes Einsamkeitsrisiko. Umgekehrt gilt: Soziale Beziehungen schützen. Eine von Louise Hawkley geleitete amerikanische Studie, bei der rund 10000 Menschen befragt wurden, kam 2019 zu dem Ergebnis: „Ältere Menschen, die soziale Beziehungen mit einem Lebensgefährten, mit der Familie oder Freundinnen aufrechterhalten, sind meist weniger einsam.“
Auch laut einer Metaanalyse von 148 Studien, die Julianne Holt-Lunstad 2017 präsentierte, wirken Alleinleben, ein Mangel an Sozialkontakten und Einsamkeit eng zusammen. Jeder dieser drei Faktoren verkürzt die Lebenserwartung.
3 Geschlecht
In den meisten, aber nicht in allen Studien klagten Frauen häufiger über Einsamkeit als Männer. Eileen Graham und ihr Team führen das darauf zurück, dass Frauen sensibler für Beziehungen seien. Vielleicht neigten sie auch stärker dazu, solche Gefühle wie Einsamkeit zu „internalisieren“.
Pamela Qualter von der University of Manchester bietet eine andere Erklärung an: Zuzugeben, dass sie sich einsam fühlen, falle Männern schwer. Es sei für sie mit einem Stigma belegt, solche vermeintlichen Schwächen zu zeigen. In ihrer 2020 veröffentlichten Studie mit 46000 Befragten vermieden und umschrieben Pamela Qualter und ihr Team daher das Wörtchen „einsam“ – und siehe da: In dieser kaschierten Form berichteten Männer sogar häufiger über Einsamkeit als Frauen.
4 Bildung
Menschen mit höherem Bildungsabschluss und Einkommen waren laut Datenanalyse seltener einsam als weniger gebildete und betuchte Personen. Das mag daran liegen, dass es Letzteren an finanziellen und anderen Ressourcen zur sozialen Teilhabe mangelt. Wenn man ausgeht, sei es ins Kino, ins Café oder ins Sportstudio, ist das mit Kosten verbunden.
Dieses Handicap schränkt wohl auch eine wichtige Ressource gegen Einsamkeit ein: die Fertigkeit, sich Ziele zu setzen, Alltagsaufgaben selbst anzugehen und sich damit als „selbstwirksam“ zu erleben. Ältere Menschen, die das Gefühl haben, den Schalthebel ihres Lebens noch immer selbst zu führen, sind seltener einsam – so ein Ergebnis der Longitudinal Aging Study Amsterdam.
Eine andere mit Bildung verschränkte Fertigkeit, die vor Einsamkeit schützt, ist Weisheit. Weisheit umfasst unter anderem Selbstreflexion, die Gabe, eine Sache aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, Toleranz gegenüber anderen Standpunkten, aber auch Einfühlungsvermögen und ein grundlegendes Wohlwollen gegenüber den Mitmenschen. Eine Studie, bei der im süditalienischen Cilento und im kalifornischen San Diego Personen zwischen fünfzig und neunzig Jahren befragt wurden, ergab, dass die Weiseren unter ihnen seltener mit Einsamkeit zu kämpfen hatten.
5 Gesundheit
Einsamkeit und Gesundheit hängen wechselseitig miteinander zusammen. Wer körperlich, psychisch oder kognitiv eingeschränkt ist – etwa durch eine Gehbehinderung, eine Depression oder eine beginnende Demenz –, lebt oder verhält sich meist zurückgezogener. Das wurde in der aktuellen Datenanalyse bestätigt. Auf der anderen Seite ist Einsamkeit ihrerseits ein erhebliches Gesundheitsrisiko, vergleichbar mit Rauchen oder starkem Übergewicht. Einsamkeit erhöht das Risiko für eine Herzerkrankung oder einen Schlaganfall um etwa 30 Prozent. Laut einer Metaanalyse von 148 Studien mit mehr als 300000 Personen haben Menschen, die sich sozial verbunden fühlen, nur ein halb so hohes Risiko, deutlich vor ihrer statistischen Lebenserwartung zu sterben.
Sogar vorübergehende Einsamkeitsgefühle schlagen sich in körperlichen Symptomen nieder. Das brachte eine amerikanische Studie zutage, bei der 1538 Befragte acht Tage lang täglich telefonisch über ihr Befinden Auskunft gaben. An den einsamen Tagen, so stellte sich heraus, klagten sie häufiger über Beschwerden wie Erschöpfung, Kopfschmerz oder Schwindel. Darin steckt aber auch etwas durchaus Mutmachendes: „In der Forschung wird Einsamkeit oft wie eine binäre Eigenschaft behandelt“, erläutert die Erstautorin Dakota Witzel, „entweder du bist einsam oder du bist es nicht. Aber aus unserer eigenen Erfahrung wissen wir doch, dass das nicht zutrifft. Manche Tage sind schlimmer als andere – und sogar manche Stunden.“
Dies verdeutlicht, dass Einsamkeit eben kein in Stein gemeißeltes Persönlichkeitsattribut ist, sondern ein dynamisches Geschehen, wie auch Eileen Graham und ihr Team hervorheben. Ob und wie einsam wir sind, verändert sich mit den Lebensumständen, mit unserem Verhalten und manchmal sogar mit unserer Einstellung.
Quellen
Eileen K. Graham u.a.: Do We Become More Loneley With Age?A Coordinated Data Analysis of Nine Longitudinal Studies. Psychological Science, 35/6, 2024, 579–596
Louise C. Hawkley u.a.: Are U.S. older audults getting lonelier? Age, period, and cohort differences. Psychology and Aging, 34/8, 2019, 1144–1157
American Psychological Association: Social isolation, loneliness could be greater threat to public health than obesity. ScienceDaily, 5. August 2017
Jana Lieberz, Dirk Scheele u.a.: Loneliness and the Social Brain: How Perceived Social Isolation Impairs Human Interactions. Advanced Science, 2021, e2102076
Manuela Barreto, Pamela Qualter u.a.: Loneliness around the world: Age, gender, and cultural differences in loneliness. Personality and Individual Differences, 2021, 1:169:110066
Bianca Suanet, Theo G. van Tilburg: Loneliness declines across birth cohorts: The impact of mastery and self-efficacy. Psychology and Aging, 34/8, 2019, 1134–1143
Dilip V. Jeste u.a.: Study of loneliness and wisdom in 482 middle-aged and oldest-old adults. A comparison between people in Cilento, Italy and San Diego, USA. Aging & Mental Health, 25/11, 2020, 2149–2159
Dakota D. Witzel, David M. Almeida u.a.: Loneliness dynamics and physical health symptomology among midlife adults in daily life. Health Psychology, 43/7, 2024, 528–538