Von schlechten Eltern

Familiäre Konflikte müssen um jeden Preis „aufgearbeitet“ werden? Das führt häufig in eine Sackgasse, sagt Wolfgang Schmidbauer in seinem Buch.

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 10/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezesionen aus der Oktoberausgabe. © Psychologie Heute

„Eine Frau klagt die Eltern an, sie hätten sie nicht ausreichend in ihrer Autonomieentwicklung unterstützt und nach ihrem Abitur in ein Fach gezwungen, das sie nicht interessierte. Die Eltern erinnern sich an eine unsichere Tochter, die sie dringend um Rat fragte, was sie denn studieren solle.“ Wer hat recht? Und: Ist das die richtige Frage? Der erfahrene Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer beobachtet, dass wir oft auf der Stelle treten, wenn wir familiäre Konflikte um jeden Preis „aufarbeiten“ wollen; einander mit Vorhaltungen umkreisen, um in alten Kränkungen „gesehen zu werden“.

Während „missratene Kinder“ schon in frühesten Schriftzeugnissen beklagt worden seien, sieht Schmidbauer im Nachtragen elterlicher Fehler eine neue Entwicklung. Mit dem Anliegen der 68er-Bewegung, sich von „autoritären“ Alten radikal abzugrenzen, hätten Eltern begonnen, das Verhältnis zu ihren Kindern zu entgrenzen. Doch an diesen unklaren Beziehungsgrenzen können sich nach Schmidbauer neue innere Autoritäten entfalten – mit denen manchmal lebenslang gerungen wird.

Böse Väter, kalte Mütter

In dem Buch Böse Väter, kalte Mütter? Warum sich Kinder schlechte Eltern schaffen veranschaulicht der Psychoanalytiker seine Argumentation an Fallgeschichten: Benjamins Eltern wollen alles richtig machen: den kindlichen Bedürfnissen gerecht werden, später zahlen sie dem erwachsenen Sohn Wohnung und Ausbildung. Aber Benjamin fühlt sich orientierungslos. Seinen wahren Gefühlen jagt er in einer so zweifelhaften wie teuren Urschrei­therapie nach.

Schmidbauer sieht Benjamin in einer Opferposition stagnieren, von der nur der Urschreitherapeut profitiert – und zwar umso mehr, je schuldiger die elterlichen „Täter“ erscheinen. Eine seriöse Therapie, so der Autor, würde ihn unterstützen, seine Orientierung an vermeintlich allverantwortlichen „inneren Eltern“ mit der Realität zu konfrontieren: mit den Grenzen realer Eltern, mit den Anforderungen und Freiheiten seines Erwachsenenlebens.

Gnade statt Rechthaberei

Weniger deutlich wird in dem kurzen Essay, wie die These imaginärer Täter-Opfer-Spaltungen auf Fälle auszuweiten ist, in denen der erlebten Viktimisierung manifeste elterliche Gewalttaten vorausgehen. Therapeutische Positionen hierzu werden nur angedeutet. Sollten Täterinnen und Täter nicht als solche benannt werden? Sind Kontaktabbrüche erwachsener Kinder unter bestimmten Umständen alternativlos?

Kritisch kann auch gelesen werden, wie jüngere Kulturentwicklungen mitunter global gegen eine „Vormoderne“ abgegrenzt oder Traditionen anderer Kulturen charakterisiert werden. Umso feiner zeichnet Schmidbauer individuelle Begegnungen. Mit seinem Text sensibilisiert er für zwischenmenschliche Möglichkeiten, die wir im Konflikt gerne übersehen; für „Gnade“ statt Rechthaberei, Kooperation statt Harmoniestreben – und die Chance in Veränderungen wie den Rollenwechseln um eine Großelternschaft: wenn wir offen sind, sie miteinander zu gestalten.

Wolfgang Schmidbauer: Böse Väter, kalte Mütter? Warum sich Kinder schlechte Eltern schaffen. Reclam 2024, 176 S., € 18,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2024: Bin ich gestresst oder habe ich ADHS?
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