Herr Arránz Becker, wie oft entfremden sich erwachsene Kinder und ihre Eltern voneinander?

Ein Soziologe erklärt Einflussfaktoren und wie die Entfremdung von Eltern und Kindern erlebt wird.

Was versteht man unter einer Entfremdung zwischen Kindern und Eltern?

Wir haben uns bei den Definitionen an zweien orientiert, die in der internationalen Forschung häufig verwendet werden. Das ist zum einen die emotionale Distanz. Dabei werden Befragte gebeten, auf einer Skala einzuschätzen, wie eng sie sich anderen, etwa den Eltern verbunden fühlen. Wird „überhaupt nicht eng“ oder „eher nicht eng“ angegeben, nehmen wir an, dass es sich um eine größere emotionale Distanz handelt.

Zweitens wurde die Häufigkeit des Kontakts als Kriterium genommen: Wenn die Befragten seltener als einmal im Monat Kontakt zu ihren Eltern hatten, sahen wir das ebenfalls als ein Zeichen für Entfremdung. Wir haben die Angaben von 10000 erwachsenen Kindern aus zehn Befragungsrunden, also aus zehn Jahren, der Pairfam-Studie ausgewertet. Die Befragten waren zwischen 18 und 48 Jahre alt.

Was war für Sie das wichtigste Ergebnis?

Phasen der Entfremdung sind häufiger, als man glaubt. Bei jeder und jedem fünften Befragten hatte es über längere Zeiten hinweg größere emotionale Distanz zum leiblichen Vater gegeben, bei jeder zehnten Person zur Mutter. In Scheidungsfamilien spielten neue Partnerinnen und Partner der Eltern eine Rolle: Hier berichtete die Hälfte, wenig Nähe zu einem neuen Partner der Mutter zu empfinden, und zwei Drittel gaben emotionale Entfernung zu einer neuen Partnerin des Vaters an.

Was heißt das für die Beziehung zu den leiblichen Eltern nach einer Trennung?

Unsere Ergebnisse bestätigen, was wir aus Studien über Scheidungsfamilien wissen: Das Verhältnis verschlechtert sich auch zu den leiblichen Eltern, auch hier deutlicher zu den Vätern als zu den Müttern. Und Stiefeltern haben mit Rollenunsicherheiten zu kämpfen: Wie viel Zuwendung ist von den Stiefkindern erwünscht? Nicht selten kommt es in Scheidungsfamilien zu Koalitionsbildungen. Was wir aber in der Auswertung auch sehen: In der Hälfte der Fälle scheinen die Befragten und ihre Eltern sich im Laufe der Zeit wieder nähergekommen zu sein.

Was weiß man darüber, wie diese Zeiten der Entfremdung erlebt werden?

Die Pairfam-Daten enthalten dazu keine Informationen. Aus früheren Studien wissen wir, dass Entfremdung mit einer Minderung des Wohlbefindens einhergeht, auch mit Einsamkeit. Grundsätzlich nehmen wir an, dass Eltern wohl mehr darunter leiden – Forschungen legen nahe, dass sie die Beziehung zu ihren erwachsenen Kindern oft positiver einschätzen als umgekehrt. Mir ist bei meinen Recherchen für die Studie aufgefallen, dass es eine Reihe von Selbsthilfegruppen für Eltern gibt, die unter dem Kontaktabbruch durch ihre erwachsenen Kinder leiden, aber umgekehrt offenbar nicht. Das spricht dafür, dass häufiger die Kinder den Kontakt abbrechen.

Oliver Arránz Becker ist Professor für Soziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er forscht unter anderem zu Familienformen und demografischen Prozessen.

Literatur

Oliver Arránz Becker, Karsten Hank: Adult children’s estrangement from parents in Germany. Journal of Marriage and Family, 84/1, 2022, 347–360. DOI: 10.1111/jomf.12796

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