In den 1970er Jahren führte die Psychologin Mary Ainsworth Experimente durch, bei denen Mütter einjährige Kinder für kurze Zeit zum Spiel mit einer fremden Person zurückließen. Die Forscherinnen und Forscher identifizierten unterschiedliche Bindungstypen: Sicher gebundene Kinder weinten zwar, ließen sich aber nach Rückkehr der Mutter leicht beruhigen. Unsicher gebundene Kinder zeigten gar keine, heftige oder chaotische Emotionen. Ainsworth beobachtete, dass die Mütter von sicher gebundenen Kindern feinfühlig und geduldig auf deren Bedürfnisse eingingen. Nachfolgestudien zeigten, dass eine sichere Bindung gutes Sozialverhalten und die psychische Gesundheit fördert.
In ihrem nur teilweise überzeugenden Buch Präsente Eltern – starke Kinder versprechen der Psychiatrieprofessor Daniel Siegel und die Kindertherapeutin Tina Payne Bryson, die Pädagogik „auf das eine Konzept zu reduzieren, das wirklich zählt“: die sichere Bindung. Kaum jemand wird der These widersprechen, dass ein festes emotionales Band zu wenigstens einer Bezugsperson von großer Bedeutung für ein glückliches und erfolgreiches Leben ist. Doch das Autorenduo schreibt vollmundig: „Wir werden allen Erziehungsdebatten ein Ende bereiten.“ So hat es denn auch auf Fußnoten und Literaturverzeichnis verzichtet. Skepsis unerwünscht!
Siegel und Payne Bryson behaupten, dass Kinder eine sichere Bindung entwickeln, wenn sie sich beschützt, gesehen und beruhigt fühlen. Eltern könnten diese positiven Grundhaltungen fördern, indem sie voll und ganz präsent seien, wann immer ihr Kind Liebe, Trost, Ermutigung, Rat oder Hilfe benötigt. Zur elterlichen Präsenz gehöre das Zuhören, Beobachten und Verstehen des Kindes.
Viele Erziehungsstile fördern Bindungssicherheit
Belastende Kindheitserfahrungen hinterlassen häufig Langzeitschäden, darunter gestörtes Bindungsverhalten, zeigen Siegel und Payne Bryson. Doch die Forschungsbefunde zu den Folgen von Missbrauch, Gewalt, Vernachlässigung, Armut oder Drogensucht der Eltern verraten rein gar nichts über die spezifische Pädagogik der Autoren.
Internationale Studien zeigen, dass eine große Bandbreite von Erziehungsstilen zu einer sicheren Bindung führt. In den meisten westlichen Ländern sowie in Indonesien und Zentralamerika sind rund 60 Prozent der Kinder sicher gebunden, in Schweden, England, Japan, Mali und Südafrika sogar etwa 70 Prozent, in China, Puerto Rico und Chile nur 50 Prozent. Zudem konnten Studien komplexe Einflüsse des größeren sozialen Umfeldes sowie der Gene auf das Bindungsverhalten nachweisen.
2014 schrieben Siegel und Payne Bryson einen Artikel für Time mit dem Titel „Auszeiten schaden Ihrem Kind“. Experten der Society of Clinical Child and Adolescent Psychology anworteten in einem offenen Brief mit dem Titel „Empörende Behauptungen zur Angemessenheit von Auszeiten haben keine wissenschaftliche Grundlage“. Richtig durchgeführte Auszeiten seien demzufolge ein wichtiges Erziehungsmittel.
In Präsente Eltern empfiehlt das Autorenduo, ein Kind, das wiederholt Gewalt anwendet, so lange in den Arm zu nehmen, bis es sich beruhigt, um dann über die Situation zu sprechen. Kein Wort über erzieherische Konsequenzen.
Fehlverhalten als rebellisches Freiheitsstreben interpretiert
Die Kommunikationswissenschaftlerin Christiane Stella Bongertz und die Pädagogin Eliane Retz stellen in ihrem Elternratgeber Wild Child die bedürfnisorientierte Pädagogik vor, die mit der Bindungstheorie „weitgehend synonym“ sei. Deren Ziel sei, die Bedürfnisse von Kindern und Eltern gleichermaßen zu berücksichtigen. Dieses vage Konzept dient als Leitfaden für Ratschläge, die so viel Zeit, Aufwand und Energie erfordern, wie sie nur wirtschaftlich gutsituierte Eltern in Teilzeitarbeit aufbringen können.
Jedes Kind sei ein wild child, das sich nicht um Konventionen schere, schwärmen die Autorinnen. Sie deuten jegliches Fehlverhalten als Ausdruck von rebellischem Freiheitsstreben oder Erkundungsdrang. Jedes Kind eine Pippi? Das Kind wird zur Projektionsfläche für die romantischen Sehnsüchte der Eltern.
Wenige innovative Erziehungsratschläge
Eine Kapitelüberschrift heißt: „Warum Strafen grundsätzlich eine schlechte Idee sind“. Ihr wild child verweigert das Zähneputzen, Haarewaschen, Gemüseessen, Aufräumen oder Dankesagen? Retz und Bongertz empfehlen, unwillige Kinder mit Liedern, Spielen und langen Erklärungen umzustimmen. Hilft alles nichts? Machen Sie eine Atemübung und denken Sie daran, dass die Bedürfnisse des Kindes wichtiger als soziale Normen sind! Es fasst in Steckdosen? Basteln Sie ein activity board! Es trödelt gerne? Planen Sie für jeden Weg 20 Minuten Extrazeit ein. Es klammert bei der Kita-Eingewöhnung? Bleiben Sie bis zu zwölf Wochen in der Kita!
Sowohl Bongertz und Retz als auch Siegel und Payne Bryson belegen die negativen Wirkungen autoritärer Erziehungsformen. Die ebenso gut erforschten Folgen permissiver oder überbehütender Methoden spielen sie stark herunter. Sie raten, alle Regeln klar und kindgerecht zu erklären, schweigen jedoch zur wichtigen Frage, wie Eltern diese Regeln durchsetzen können. Beide Bücher bieten weder eine ausgewogene Darstellung des aktuellen Forschungsstandes noch innovative Erziehungsratschläge. Sie überschätzen die Erklärungskraft der Bindungstheorie – und trauen Eltern und Kindern zu wenig zu.
Michael Holmes ist Erzieher und freier Journalist.
Literatur
Daniel J. Siegel, Tina Payne Bryson: Präsente Eltern – starke Kinder. Warum Verlässlichkeit für die kindliche Entwicklung so wichtig ist. Aus dem Amerikanischen von Christine Sadler. Kösel, München 2021, 350 S., € 22,–
Eliane Retz, Christiane Stella Bongertz: Wild Child. Entwicklung verstehen, Kleinkinder gelassen erziehen, Konflikte liebevoll lösen. Piper, München 2021, 384 S., € 18,–