Als Vera ein Kind war, kümmerte sie sich selbst um ihr Essen. Das Frühstück ließ sie ausfallen, mittags gab es einen Fruchtsnack, und abends kochte sie sich eine Fertigpackung Makkaroni mit Käse. Sie trug die abgetragene Unterwäsche ihrer Cousine, die von Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurde.
Ihre Mutter war meist damit beschäftigt, Alkohol und Drogen zu besorgen. Vera war ein vernachlässigtes Kind. Aber sie war eine gute Schülerin. Sie schaffte es später auf das College und machte sogar einen Universitätsabschluss.
Um resiliente Kinder wie Vera geht es in dem neuen Buch Die Macht der Kindheit der amerikanischen Psychologin und Therapeutin Meg Jay. Es sind berührende und erschütternde Geschichten ihrer eigenen Patienten, die Jay hier erzählt. Sie erlebten sexuellen und emotionalen Missbrauch, Gewalt durch Geschwister, ein ständiges Gefühl von Bedrohung durch psychisch gestörte Eltern oder wurden in der Schule jahrelang gemobbt.
Trotzdem schafften sie es, beruflich erfolgreich zu sein und gesunde Beziehungen zu anderen Menschen zu führen. Es schien, als ob die zerstörerische Umwelt an diesen resilienten Kindern abprallen würde (das lateinische Wort resilire bedeutet „abprallen, zurückspringen“).
Aber der Schein trügt, wie die Psychologin in ihren Fallgeschichten zeigt. Äußerlich erfolgreich, litten die Erwachsenen innerlich an Einsamkeit, Gefühlen von Entfremdung und Isolation, dem Druck, überdurchschnittlich gut sein, eine Rolle spielen oder die Erwartungen anderer erfüllen zu müssen.
Zwei Strategien gegen den Stress
Wie schon die amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner 1955 festgestellt hat, entwickelt sich etwa ein Drittel aller Kinder aus schwierigen Verhältnissen zu erfolgreichen Erwachsenen. Eine Reihe von Charaktereigenschaften ist dabei hilfreich – darunter die Fähigkeit, auch angesichts von Stress oder traumatischen Erfahrungen regelmäßig positive Gefühle zu erleben –, die emotionale Bindung an eine Bezugsperson oder das Vertrauen, etwas bewirken zu können.
Laut Jay gibt es zwei zentrale Strategien, um mit Stress fertigzuwerden: eine problemorientierte – man versucht im Außen eine Lösung zu finden, indem man zum Beispiel vor dem kriminellen Vater die Flucht ergreift. Oder eine gefühlsorientierte Bewältigung, etwa über den Weg der inneren Distanzierung.
Meg Jay hat ein ebenso spannendes wie informatives Wissenschaftsbuch geschrieben. Trotz der romanhaften Sprache belegt Jay alle Ausführungen penibel mit Forschungsergebnissen. Immer wieder weist die Autorin auf wichtige psychologische Studien hin. Mit dem Einfluss, den die genetische Disposition auf die Resilienz hat, beschäftigt sie sich allerdings nur kurz.
Jay macht den Betroffenen Mut und spricht sie direkt an. Resiliente Menschen bezeichnet sie als „Supernormale“: „Jeden Tag legen sie Kostüm und Maske an, und sie nutzen alle Kräfte, die ihnen zur Verfügung stehen, um gegen die Gefahren ihrer Welt zu kämpfen.“
Meg Jay: Die Macht der Kindheit. Wie negative Erfahrungen uns stärker machen. Aus dem amerikanischen Englisch von Anabelle Assaf und Hainer Kober. Hoffmann und Campe, Hamburg 2018, 464 S., € 24,–