Die Menschen der westlichen Welt sind überaus stolz auf ihre Individualität. Umso irritierender ist, dass Zwillingen – gerade wenn sie eineiig sind – diese Individualität gerne abgesprochen wird. Man bescheinigt ihnen annähernd identische Charaktere, Ängste, Denkweisen sowie politische oder sexuelle Vorlieben. Nach manchen Schilderungen sollen sie sogar wechselseitig ihre Gedanken lesen und spüren können, was ihr Kozwilling gerade 2000 Kilometer entfernt durchmacht. Damit jede oder jeder der beiden wenigstens ein bisschen persönliche Identität ausbilden kann, gibt es sogar die pädagogische Empfehlung, Zwillinge auf unterschiedliche Schulen zu schicken.
Doch wie groß sind die Ähnlichkeiten wirklich, und wo haben sie ihren Ursprung? Die amerikanische Evolutionspsychologin und Verhaltensgenetikerin Nancy Segal – sie selbst hat eine Zwillingsschwester, die Anwältin ist – beschäftigt sich schon länger mit diesem Thema. Ihre Erkenntnis: „Zwillinge faszinieren den Menschen seit jeher, und das hat allerlei Mythen zu ihnen entstehen lassen.“ Viele davon halten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Doch einige tun es – darunter auch solche, von denen man es nicht erwartet hätte. Eine Auswahl bekannter Zwillingsmythen samt Taxierung ihres Wahrheitsgehalts:
1 Eineiige Zwillinge sind genetisch identisch
„Gleich bedeutet in der Welt der Gene noch lange nicht identisch“, sagt Segal. Denn das Erbgut von eineiigen Zwillingen beginnt sich schon kurz vor oder kurz nach der Teilung der beiden Embryonen im Mutterleib zu entwickeln. Da kann dann der eine Zwilling Mutationen erleiden, die beim anderen nicht auftauchen. Von großer Bedeutung ist aber auch die Epigenetik, wie also bestimmte Gene an- oder abgeschaltet werden. „Gerade in diesem Bereich muss die Zwillingsforschung noch viel Arbeit leisten“, erklärt Segal. Denn dort fände man wohl viele Erklärungen für das Phänomen, dass eineiige Zwillinge sehr unterschiedlich sein können, obwohl sie mit dem gleichen Erbgut ins Leben gestartet und in der gleichen Umgebung groß geworden sind.
2 Zweieiige Zwillinge teilen 50 Prozent ihres Erbguts
Zweieiige Zwillinge unterscheiden sich genetisch im selben Ausmaß wie andere Geschwisterpaare, nämlich zu etwa 50 Prozent. Doch dies ist nur ein Durchschnittswert, tatsächlich variiert ihr Erbgut – laut jüngsten Studien – in einem Bereich von 42 bis 58 Prozent. Zweieiige Zwillinge mit mehr genetischen Überschneidungen sind sich zwangsläufig besonders ähnlich; aber das gilt für andere Geschwister auch.
3 Der erstgeborene Zwilling ist der dominante
Dieses Vorurteil basiert auf der These, wonach derjenige, der sich schon bei der Geburt durchsetzen konnte und als Erster „herauskam“, bereits seine angeborene Dominanz unter Beweis gestellt habe. Die Studienlage zeigt jedoch, dass die Reihenfolge der Geburt keinen Einfluss auf die Intelligenz, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Dominanz der Zwillinge hat. Nancy Segal war viele Jahre davon überzeugt, nur deshalb schwächer und labiler als ihre Zwillingsschwester zu sein, weil sie die Zweitgeborene gewesen sei. Später erfuhr sie dann, dass sie selbst die Ältere von beiden war. Ihr Resümee: „Die Reihenfolge bei der Geburt spielt psychologisch nur dann eine Rolle, wenn ich glaube oder man mich glauben lässt, dass sie eine Rolle spielt.“
4 Zwillinge schneiden im IQ-Test schlecht ab
Studien zeigen tatsächlich, dass Zwillinge im Alter von sechs Jahren im Schnitt ein bis zwei IQ-Punkte weniger erreichen als andere Kinder. Doch im Alter von zwölf ist dieser Unterschied verschwunden, und er ist bereits im Vornherein nicht nachweisbar, wenn die Geschwister getrennt aufwachsen. Die naheliegende Erklärung: Wenn die Zwillinge in jungen Jahren aufeinander fokussiert sind, kann das ihre sprachliche Entwicklung und individuelle Fähigkeit zum Problemlösen ein wenig hemmen. Doch wenn sie älter werden, öffnen sie sich auch anderen Menschen, und dann holen sie das Versäumte nach und entwickeln sich wie alle anderen. Man findet sie später auch genauso häufig in Spitzenpositionen der Gesellschaft.
5 Zwillinge gehören in getrennte Schulklassen
„Niemand stört sich daran, wenn Kinder mit ihren guten Freunden in eine Klasse gehen“, beklagt Segal. „Doch bei Zwillingen soll das Nachteile für ihre individuelle Entwicklung haben.“ Tatsächlich seien Kinder lebendiger und engagierter in der Schule, wenn ein Verwandter in der Nähe ist, und das könne auch der Ko-zwilling sein. Die beiden sollten es jedoch den Mitschülern und Lehrern leichter machen und unterschiedliche Kleidung tragen. Dies nehme auch ein wenig von dem Täuschungsverdacht (dass beispielsweise ein Zwilling die schwere Klausur für den anderen schreibt), der chronisch auf ihnen lastet.
6 Zwillinge sind telepathisch verbunden
Sie spüren, was der andere sagen wird, bevor er es ausgesprochen hat, oder wenn er traurig oder in Schwierigkeiten ist, obwohl er viele Kilometer entfernt ist. Hartnäckig hält sich die Vorstellung, dass Zwillinge besondere Kommunikationskanäle zueinander haben, und es scheint auch genug Beispiele dafür zu geben, wie etwa die Musikerzwillinge Jared und Jonathan Mattson, die – ohne irgendwelche Absprachen – beim Improvisieren perfekt miteinander harmonieren. „Doch das tun auch andere Musiker, wenn sie oft genug miteinander gespielt haben“, winkt Segal ab. Nichtsdestoweniger gaben in einer Studie über 90 Prozent von 77 befragten Zwillingen an, schon einmal telepathische Erfahrungen untereinander erlebt zu haben. In einer Studie, allerdings mit winziger Stichprobe, hielt man die Arme von vier Zwillingen in eiskaltes Wasser – und in einem Fall zeigte der Kozwilling zeitnah die gleichen Schockreaktionen, obwohl er sich wohlbehalten mehrere Zimmer entfernt davon aufhielt.
Nancy Segal: Twin mythconceptions. False beliefs, fables, and facts about twins. Elsevier, Amsterdam 2017