Ein Band, stärker als das Grauen

Vierzig Jahre nach der Befreiung trafen sich Überlebende der Zwillings-„Experimente“ von KZ-Arzt Mengele wieder. Nancy L. Segal begleitete das Wiedersehen.

Das schwarz-weiß Foto zeigt Kinder in gestreiften Hemden, die im KZ Auschwitz als Zwillinge Teil von grausamen Experimenten von SS-Arzt Josef Mengele wurden.
„Mengeles Zwillinge“ werden die Kinder genannt, an denen der SS-Arzt Josef Mengele im KZ Auschwitz seine grausamen „Experimente“ durchführte. © Psychologie Heute

Der Artikel „Ein Band, stärker als das Grauen“ von Nancy L. Segal ist zuerst in Psychologie Heute 10/1985 erschienen.

Im Zuge des 50-jährigen Jubiläums von Psychologie Heute empfiehlt die Redaktion Artikel aus jedem Jahrzehnt seit Bestehen unseres Magazins.

Der Text wurde inhaltlich unverändert übernommen. Zur besseren Lesbarkeit wurden Zwischenüberschriften nachträglich eingefügt.

Am 27. Januar 1945 befreite die Sowjetarmee eine ausgemergelte Gruppe von Überlebenden aus dem Konzentrationslager Auschwitz/ Birkenau in Polen. Unter den bis aufs Skelett abgemagerten Menschen, die sich durch den Schnee in die Freiheit schleppten, waren 157 Zwillingskinder. Sie waren von rund 3000 Zwillingen übriggeblieben, die seit 1943 das Lager Auschwitz betreten hatten. Zwillinge waren unter anderem in Auschwitz ausgesondert worden, um als Objekte in brutalen und entwürdigenden medizinischen Experimenten von Josef Mengele, dem „Todesengel" von Auschwitz, mißbraucht zu werden.

Viele dieser Zwillinge hatten 40 Jahre lang geschwiegen. Sie konnten sich – wie sie erklärten – den furchtbaren Erinnerungen ihrer Vergangenheit nicht stellen. Einige nahmen an, die einzigen überlebenden Zwillinge von Auschwitz zu sein. Sie glaubten, daß niemand ihre Gedanken und Empfindungen würde teilen können. Doch am 40. Jahrestag der Befreiung aus dem Todeslager kamen mehr als die Hälfte der überlebenden Zwillinge aus sechs Ländern zum ersten Welttreffen der Mengele-Opfer nach Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem. Acht von ihnen fuhren zuvor nach Auschwitz.

„Ich klage an“ war die Losung dieses ersten Mengele-Tribunals, bei dem die Überlebenden mit einer Gruppe von Juristen, Medizinern und Psychologen zusammentrafen, um über ihre Erfahrungen in Auschwitz zu berichten und gemeinsam Material über die Art und das Ausmaß der pseudowissenschaftlichen Experimente Mengeles zusammenzustellen.

Warum haben wir diesen Artikel ausgewählt?

Redakteurin Eva-Maria Träger über den Artikel „Ein Band, stärker als das Grauen“:

Die Psychologin und Zwillingsforscherin Nancy L. Segal verknüpft in ihrem erschütternden Bericht eigene Beobachtungen bei dem Treffen der überlebenden Zwillinge mit Inhalten der Interviews, die sie dort geführt hat, und Forschungsergebnissen zu Zwillingen im Allgemeinen. Sie führt sachlich durch die Erinnerungen der Betroffenen, die in teils sehr jungem Alter auf grausamste Weise gequält worden waren und sich 40 Jahre später immer noch auf der Suche befanden. Es waren nicht nur schmerzlich vermisste Geschwister, ein Zwilling oder auch Drillinge, die sie weiter hofften zu finden. Immer ging es auch um sie selbst, darum „Teilstücke ihrer Vergangenheit wiederzufinden, um ihre Vorstellung von sich selbst als Kinder rekonstruieren zu können“, wie Segal schreibt.

Der Beitrag ist für mich zum einen ein wichtiges Dokument gegen das Vergessen, auch und gerade heute noch, fast 40 Jahre nach seinem Erscheinen. Er schildert nicht nur schonungslos, welchen Taten und Menschen diese Kinder in Auschwitz ausgesetzt waren, sondern thematisiert auch die langwierigen psychischen Folgen für die Überlebenden. Zum anderen zeigt die Autorin neben den tiefen Abgründen, zu denen Menschen fähig sind, auch eindrucksvoll, über welche mitmenschlichen Fähigkeiten, Fürsorge, Mut, Einsatz füreinander, wir schon im frühen Alter verfügen können.

Deutlich wird auch, wie eng und wichtig – in diesem Fall existenziell –, die Verbindung zwischen Geschwistern sein kann. Nancy L. Segal schreibt, nicht die Tatsache, ein- oder zweieiiger Zwilling zu sein, sei für die Lagererfahrung der Zwillinge von Bedeutung gewesen. „Am wichtigsten war es, einen Bruder oder eine Schwester zu haben, einen vertrauten, ständigen Gefährten, mit dem man die Sorgen teilen und dem man helfen konnte.“

Die Autorin, selbst ein Zwilling, hat zu dem Thema auch diesen neueren Artikel geschrieben. Darin berichtet sie unter anderem über ihr 2023 veröffentlichtes Buch mit Fotos von dem Treffen 1985.

Die überlebenden Zwillinge nennen sich CANDLES (Children of Auschwitz Nazi's Deadly Experiments Survivors) – eine Organisation, die von zwei Betroffenen, Eva Kor und Marc Berkowitz, gegründet wurde. CANDLES versteht es als Aufgabe, die Überlebenden von Auschwitz/ Birkenau zusammenzuführen und die Folgen der Menschenversuche zu untersuchen. Die Organisation wollte Josef Mengele vor Gericht bringen, bevor sein Tod in einer weltweiten Medien-Inszenierung offiziell bestätigt wurde.

Daß diese Wiedervereinigung 40 Jahre nach dem Geschehen überhaupt stattfand, bestätigt die Kraft der sozialen Bindungen unter Zwillingen und speziell zwischen diesen Zwillingspaaren. „Jedesmal, wenn wir einen weiteren Zwilling treffen, ist es, als ob wir ein Stück von uns selbst wiederfinden ...“, erklärte einer von ihnen. Die Reaktionen auf das Wiedersehen spiegeln die ungewöhnliche Erfahrung wider, Zwillinge und KZ-Überlebende zugleich zu sein. Daher wurde auch über Fragen menschlicher Anpassungsfähigkeit und die Bedeutung sozialer Bindungen unter schweren äußeren Lebensbedingungen gesprochen.

Wie die Zwillingsbeziehung die Lagererfahrungen beeinflusste

Ich nahm als Mitglied der Minnesota Study of Twins Reared Apart (einer Untersuchung über getrennt aufwachsende Zwillinge) an der Wiedervereinigung in Auschwitz und Yad Vashem teil. In Yad Vashem interviewte ich zwölf eineiige und zwölf zweieiige Zwillinge sowie einige andere Überlebende. Besonders interessiert war ich an der Untersuchung, wie die Zwillingsbeziehung Art und Folgen der Lagererfahrungen beeinflußte und ob eineiige Zwillinge die Bedeutung des Zwillingseins in Auschwitz anders empfanden als zweieiige Zwillinge.

Eineiige Zwillinge sind sich verhaltensmäßig ähnlicher und stehen sich emotional näher als zweieiige Zwillinge. In meinen eigenen Untersuchungen zur sozialen Interaktion junger Zwillinge fand ich heraus, daß eineiige Paare kooperativer und altruistischer sind. Eine eindrucksvolle Reihe experimenteller, klinischer und biographischer Daten beschreibt die Bindung eineiiger Zwillinge als die naheste und beständigste aller menschlichen Beziehungen. Ich fragte mich, ob dieselben Tendenzen auch die Zwillingskinder des Holocaust unterscheiden, für die das tägliche Überleben schmerzhaft und die Existenz ungewiß war.

In Auschwitz wurden Zwillinge und Menschen mit genetischen Anomalien, wie etwa Zwergwuchs, anders behandelt als die übrigen Gefangenen, weil Mengele sie eingehend untersuchen wollte. Im Gegensatz zu anderen Kindern blieb den meisten Zwillingen die Gaskammer erspart. Ferner wurden im Gegensatz zu der üblichen Trennung der Familienmitglieder die meisten Zwillingspaare nach Geschlechtern getrennt zusammen in spezielle Zwillingsbaracken verlegt. Junge männlich-weibliche Zwillingspaare lebten zum Teil in den Mädchenbaracken; die über zehn Jahre alten Zwillinge wurden getrennt.

Abgesehen von dieser Sonderbehandlung erlebten die Zwillinge den ganzen Terror eines Todeslagers: Sie waren ihren Eltern entrissen worden, Hunger, Kälte und Terror ausgesetzt und sie waren der Erniedrigung solcher Experimente wie Zwilling-zu-Zwilling-Bluttransfusionen, chemischen Injektionen und sogar Sterilisationen ausgeliefert. Darüber hinaus bemerkten die älteren Kinder, daß sie nur als Zwillingspaare einen Wert hatten; starb einer, wurde der andere meistens getötet. Laut Berichten wurde Mengele beim Tod eines Zwillings ziemlich wütend. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, den überlebenden Zwilling zu töten und Sezierungen anzuordnen, um ihre Körperorgane zu vergleichen.

Zwillingsbeziehung als Schlüsselfaktor des Überlebens

Alle interviewten Zwillinge betrachteten die Zwillingsbeziehung als Schlüsselfaktor ihres psychologischen und physischen Überlebens in Auschwitz. Im Gegensatz zu meinen Erwartungen war die Tatsache, eineiiger oder zweieiiger Zwilling zu sein, für die Lagererfahrung der Zwillinge nicht von Bedeutung. Am wichtigsten war es, einen Bruder oder eine Schwester zu haben, einen vertrauten, ständigen Gefährten, mit dem man die Sorgen teilen und dem man helfen konnte.

Ihre persönlichen Berichte waren Variationen des gemeinsamen Themas von gegenseitiger Fürsorge und Anteilnahme: „Ich war nicht allein.“ „Wir fühlten uns wie eine Einheit, deshalb wäre eine Trennung ein großes Unglück gewesen.“ „Die Tatsache, daß mein Zwilling bei mir war, gab mir Zuversicht und das Gefühl von Familie.“ „Ein Familienmitglied bei mir zu haben gab mir die Kraft, weiterzumachen. Für meine Schwester wurde ich ein Vater.“

Als Neunjähriger schaffte Kor es, seiner Zwillingsschwester, die das Interesse am Leben gänzlich verloren hatte und extrem abgemagert war, Kartoffeln zu besorgen. Rachel Smadar bestätigte, daß sie ohne das beharrliche Aufmuntern ihrer Zwillingsschwester, Zehava Friedman, nach ihrer Befreiung als Zwölfjährige nicht mehr durch Schnee und Kälte hätte laufen können. Heute beschreiben die in Israel lebenden Zwillingsschwestern ihre Beziehung als sehr nah. „Wir fragen uns manchmal, was wir machen würden, wenn wir einander nicht hätten.“

Eineiige Zwillinge erklärten, daß ihnen das Übernehmen von Verantwortung für den „schwächeren“ Zwilling eine Aufgabe und den Willen zum Leben gab. Einige gestanden auch ein, ihr Wissen, daß das eigene Überleben von dem des anderen Zwillings abhängig war, habe sie zum Weiterleben angespornt. Viele Zwillinge gewannen auch Kraft aus der Vorstellung und Hoffnung, sie könnten nach dem Krieg zu ihren Familien zurückkehren.

Bei der Beschreibung ihrer Einstellung als Kinder in Auschwitz benutzten viele Zwillinge Begriffe wie „entschieden“, „widerspenstig“ und „nie zum Nachgeben bereit“. Einer hatte gelobt, „sich nie dieser Unmenschlichkeit zu ergeben“. Eine andere hatte ständig die Worte „Hoffnung, Freiheit und Heimat“ im Bewußtsein. Sie biß einen SS-Offizier, als er ihr die Identifizierungsnummer in den Arm tätowierte. Zum Beweis ihres Widerstandes, zeigt sie die verwackelten Ziffern auf ihrem Arm. Diese Entschlußkraft erklärt vielleicht, warum gerade diese Zwillinge überlebten, während andere umkamen. Sie könnte auch der Hintergrund für die unterschiedlichen Überlebensstrategien sein, mit denen sie das Lager überstanden (siehe Kasten: „Das Überlebensspiel“).

Zwillingsbeziehung half die „Menschlichkeit zu bewahren“

Viele der Zwillinge wurden in Israel von dem Psychiater Shamai Davidson von der Bar-Ilan Universität in Ramat Gan interviewt. Davidson, der die Universitätsforschung über psychische und soziale Traumata nach einer KZ-Haft leitet, kam wie ich zu dem Schluß, daß die Nähe und Anteilnahme zwischen den Zwillingen „Schutz und Abwehr“ gegen die sie umgebenden Scheußlichkeiten bedeutete. Die Zwillingsbeziehung half ihnen dabei, „ihre Menschlichkeit zu bewahren“. Trotz der Trennung von den Eltern, trotz Kälte, Hunger, schmerzhafter medizinischer Eingriffe und ständiger Todesgefahr erinnerte sie die Gegenwart des Zwillingspartners daran, daß sich jemand um sie sorgte und umgekehrt Hilfe brauchte. Dies mag den Unterschied zwischen Identität und Anonymität ausgemacht haben.

Von allen Zwillingen ging es den getrennten männlich-weiblichen Paaren am schlechtesten. Berkowitz erinnert sich, daß die Jungen zu bestimmten Stunden des Tages ungeduldig darauf warteten, ihre Schwestern hinter einer Absperrung zu sehen. Doch dieser Sichtkontakt aus der Ferne endete, wenn neue Gefangenentransporte ankamen, da die Züge den Blick auf die Baracken der Mädchen versperrten. Ein anderer männlicher Zwilling, der mit sechs Jahren nach Auschwitz kam, erinnert sich an nicht viel mehr als die flüchtige Erscheinung seiner Schwester durch einen Stacheldrahtzaun. Peter Greenfeld sucht heute noch nach seiner Zwillingsschwester, von der er nach dem Krieg getrennt wurde. Mendel Guttman, ein Drilling, ist auf der Suche nach seinem Bruder und seiner Schwester. Greenfeld und Guttman hatten gehofft, das Zwillingstreffen werde sie mit ihren Geschwistern, die sie nie vergessen haben, wieder zusammenführen, doch sie wurden enttäuscht.

Psychologen haben zu der von vielen Zwillings-Adoptivkindern verspürten „inneren Leere" und Unruhe Stellung genommen. Meine Kollegen vom Minnesota Study of Twins Reared Apart-Projekt sind immer wieder von der Entschlossenheit getrennter Zwillinge beeindruckt, mit der diese sich gegenseitig suchen. Alle von uns Untersuchten stimmten darin überein, daß das Finden des Zwillings die lange Suche wert war. Dieses Verlangen erklärt vielleicht, warum einige der Zwillingsüberlebenden ihre Ängste überwanden und die großen finanziellen und persönlichen Opfer nicht scheuten, um zu dem Treffen nach Israel zu kommen. Doch was brachte andere Zwillinge dazu, die nicht nach ihren Geschwistern suchten? Frank Klein zum Beispiel, der – wahrscheinlich aufgrund der an ihm vorgenommenen Experimente – eine Niere verloren hat. Obwohl er von der Dialyse abhängig war, richtete er es ein, am Treffen teilzunehmen.

Keine echte Kindheit

Das Verbindende dieser Begegnung war das Bedürfnis der Zwillinge, Teilstücke ihrer Vergangenheit wiederzufinden, um ihre Vorstellung von sich selbst als Kinder rekonstruieren zu können. „Nach dem Krieg gab es für uns Kinder von Auschwitz keine Kindheit. Es schien zwar, als ob wir die Kinder spielten, aber wir dachten wie Erwachsene.“ Berkowitz, jetzt 52 Jahre alt, erklärte, daß er nach Auschwitz zurückkehrte, „um zu sehen, ob ich immer noch der kleine Junge bin, der sich Sorgen machte, der ein Freund sein und ein Lächeln verschenken konnte“.

In der Gegenwart der anderen Zwillinge konnten sie sich erinnern und, was am wichtigsten war, man konnte sich auch an sie erinnern. Im Gegensatz zu anderen Kindern hatten die meisten keine Eltern, die sie sich vorstellen oder Ereignisse, die sie mit ihren Kinderjahren in Verbindung bringen konnten. Daher war das Wiedererkennen durch andere Zwillinge ein wichtiger Aspekt bei der Wiederherstellung der zerstörten Identität, der Bestätigung ihrer Selbstwahrnehmung und des Verstehens ihrer gegenwärtigen Einstellungen und Gefühle.

In den Auschwitz-Archiven verbrachten die Zwillinge Stunden mit der Suche nach bekannten Namen und Gesichtern. Einen Namen auf der Liste der Auschwitz-Zwillinge zu entdecken oder ein Gesicht auf einem Foto zu erkennen, war außerordentlich wichtig. Noch wichtiger jedoch war die persönliche Bestätigung.

Auf dem Treffen schien es, als ob sich die Männer besser an die Namen und Gesichter erinnern konnten als die Frauen; nur wenige der Frauen erkannten sich wieder. Diese gegensätzlichen Reaktionen könnten zum Teil von der unterschiedlichen Organisation der Jungen und Mädchen in Auschwitz herrühren. Die Jungen waren einem Gruppenleiter unterstellt – dem sich außerordentlich aufopfernden Zvi Spiegel –, während die Mädchen ohne Leiterin blieben. Spiegel, der im Lager eine Zwillingsschwester hatte, war 29 Jahre alt, als er von Ungarn nach Auschwitz kam. Mit der Aufgabe betraut, sich um 40 bis 50 Jungen zu kümmern, zählte es zu seinen Pflichten, seine Schützlinge zum Waschraum zu begleiten und darauf zu achten, daß sie für die Experimente zur Verfügung standen.

Die Rolle von „Onkel Spiegel“

„Onkel Spiegel“, wie er von seinen Schützlingen genannt wurde, sagte, er habe versucht, die Jungen zu beruhigen. Er unterrichtete sie, wann immer sich die Gelegenheit ergab, in Geographie und Mathematik. Das Leben von zwei Nicht-Zwillings-Brüdern konnte er retten, indem er vor SS-Offizieren darauf bestand, sie seien Zwillinge. Die jüngeren Zwillingsjungen in seinen Baracken blieben dadurch am Leben, daß er Mengele von dem Plan eines anderen Arztes, sie alle in die Gaskammer zu schicken, unterrichtete. Mengele, der seine wertvollen Zwillinge nicht verlieren wollte, setzte sich über den Befehl hinweg. Spiegel achtete darauf, daß die Jungen ihre Namen und Heimatorte kannten. Er wollte, daß die Kinder wußten, wer sie waren. Nach der Befreiung begleitete er 36 Zwillingskinder aus dem Lager in ihre Heimatorte in Polen und der Tschechoslowakei. Unterwegs nahm er viele andere heimatlose Kinder mit.

Vielleicht war die Mädchengruppe weniger geschlossen, weil sie keine derartige Leitfigur hatte. In diesem Zusammenhang ist das Erlebnis von Irene Hizme auf dem Treffen besonders ergreifend. Bis zum letzten Tag des Treffens hatte sich niemand an sie erinnert. Sie empfand die Unterhaltung mit den anderen Zwillingen als schmerzhaft, besonders nachdem die „Spiegel-Jungen“ ihren Zwillingsbruder, René Slotkin, wiedererkannt hatten und sie nicht. Erst als Ruth Elias, eine Nicht-Zwillings-Auschwitz-Überlebende, sie an Ereignisse wie den Transport von Theresienstadt nach Auschwitz erinnerte, erkannte sie auch Ruth Elias wieder. Danach kamen die Erinnerungen zurück.

Einige Zwillinge hatten das besondere Bedürfnis, ihre Eltern zu ehren, von denen sie im Alter von acht Jahren oder weniger getrennt worden waren – einem Alter in dem Kinder die Eltern idealisieren und besonders abhängig sind. Einige hatten damals angenommen, daß sie niemals Spuren von ihren Eltern wiederfinden würden. Denn Gräber wurden nicht gekennzeichnet. Beerdigungsfeiern, um Abschied zu nehmen, gab es nicht. Die Eltern starben einen anonymen Tod.

Der Ort, an dem sie ihrer Mutter entrissen wurden

Für die erwachsenen Holocaust-Zwillinge wurde jetzt ein Bahnsteig, die Eintragung in eine Liste oder ein Totenschein zum „Elterngrab“. Als wir in Auschwitz eintrafen, lokalisierte Eva Kor die Stelle an den Bahngleisen, an der sie ihrer Mutter entrissen wurde. „Ich komme wieder hierher, weil das der Anfang vom Ende war ... Es war hart, ohne dich aufzuwachsen, Mutter, aber wir sind endlich doch noch zurückgekommen, um uns von Dir zu verabschieden. Jetzt können wir unser Leben weiterleben.“ Es war, als ob etwas Unerledigtes nach nun 40 Jahren endlich abgeschlossen und eine riesige Last von ihr genommen worden wäre.

Die Zwillinge Hizme und Slotkin, im Alter von sechs Jahren voneinander und der Mutter getrennt, fanden den Totenschein ihrer Mutter in einer israelischen Gedenkstätte für Insassen von Theresienstadt wieder. Näher war Slotkin ihrem Grab nie gekommen; es fiel ihm schwer, das Papier dortzulassen. Hizme streichelte es mit Tränen in den Augen.

Berkowitz hatte zugesehen, als man seine Mutter in die Gaskammer führte. Er hatte ihr damals versprochen, zum Wohle der Menschheit zu arbeiten. Durch seine Reise nach Auschwitz und als Mitbegründer der CANDLES-Gruppe konnte er ihr endlich sagen, daß er sein Versprechen eingelöst hatte. Für ihn und viele andere war der Kontakt mit dem Bahnsteig in Auschwitz oder mit einem Stück Papier die legitime und bedeutungsvolle Wiedervereinigung mit den vor langer Zeit verlorenen Eltern.

Einige wenige Zwillinge hatten nach der Befreiung ihre Eltern wieder gefunden. Die Frau eines zweieiigen Zwillings beobachtete, daß beide Brüder heute noch ihren Vater „vergöttern“. „Sie haben nie das normale jugendliche Aufbegehren gegen ihre Eltern erlebt“, erklärte sie.

Die KZ-Erfahrungen haben bei vielen Überlebenden tiefe emotionale Wunden hinterlassen. Die Mehrheit der von mir Interviewten deutete an, daß sie durch die Erfahrungen so sehr erniedrigt worden seien („Man gab uns das Gefühl, Tiere, Abfall, Fleisch zu sein“), daß sie versucht hatten, diesen schrecklichen Teil ihres Lebens hinter sich zu lassen. Viele hatten mit niemandem über ihre Vergangenheit gesprochen. Sie wurden meist von ihren Adoptiveltern darin bestärkt, Auschwitz zu übergehen, als ob diese Erfahrung nie existiert hätte. Einer Frau hatte man als kleines Mädchen nur langärmelige Blusen angezogen, um die unauslöschliche in ihren Arm tätowierte KZ-Nummer zu verbergen. Dafür schämt sie sich heute noch.

Bemüht die Vergangenheit zu begraben

Im Erwachsenenalter waren die „Kinder von Auschwitz“ ängstlich bemüht, sich beruflich zu etablieren und Familien zu gründen, um die Vergangenheit endgültig zu begraben. Das gelang den meisten auch. Obwohl viele noch tief innen verletzt sind, legen sie weiterhin den Optimismus und die Entschlossenheit an den Tag, die für ihr Überleben so wichtig waren. Überraschenderweise sind sie weder verbittert noch haßerfüllt.

Kinder zu haben, war sowohl für Männer als auch für Frauen ein sehr entscheidendes Ereignis – eine Möglichkeit, verwandtschaftliche Bindungen wiederherzustellen. Kinder standen auch für Rache an den Nazis und deren Versuch, die Juden auszulöschen. Einige Frauen empfanden die Schwangerschaft und die Geburt jedoch als ziemlich belastend. Sie fürchteten Folgen der an ihnen vollzogenen Experimente für ihre Kinder. Doch trotz ihrer Ängste hatten die meisten normale Geburten. Nur für die bei den Experimenten sterilisierten Frauen waren die Folgen überwältigende Trauer und Schmerz.

Erst in den letzten vier oder fünf Jahren haben die meisten Zwillinge angefangen, sich offen mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen. Ein Zwilling stellte fest: „Man steht nicht morgens auf und denkt daran, aber man wird daran erinnert.“ Altes, fortgeworfenes Brot oder der aus einem Schornstein aufsteigende Rauch können traumatische Ereignisse und Szenen von Auschwitz schnell lebendig werden lassen.

Ich begegnete einer Reihe von Zwillingen, die durchaus bereit waren, offen mit mir über ihre emotionalen Reaktionen und Probleme zu reden. Es gab kaum Äußerungen von Schuld darüber, gerettet worden zu sein, weil sie Zwillinge waren, während die Familie und Freunde ermordet wurden. Für viele war das Zwillingsverhältnis einfach Schicksal, sie waren dafür nicht verantwortlich. Ein eineiiger Zwilling berichtete, daß sie zur Gaskammer geführt wurde, weil sie sehr schwach war und als nicht lebensfähig betrachtet wurde. Doch ihre ältere Schwester, die nichts von den Zwillingsexperimenten wußte, bat Mengele darum, die Zwillinge zusammenzulassen, da sie noch nie getrennt gewesen seien. Als er erfuhr, daß es sich um einen Zwilling handelte, ließ Mengele das kleine Mädchen aus der Gaskammer zurückholen.

Es wird kaum überraschen zu hören, daß sich fast die Hälfte der von mir interviewten Zwillinge einer Psychotherapie unterzogen hat oder ein Bedürfnis danach verspürte. Sie wurden im frühen Alter von den Eltern getrennt, ohne jede Vorbereitung auf den Verlust und ohne eine Möglichkeit zur Trauer. Ihnen wurde jeder Beistand versagt und sie waren gezwungen, in einer unsicheren, unbekannten und feindseligen Umgebung zu leben.

Alpträume, Eheprobleme, Suizidgedanken

Einige Zwillinge sprachen von Alpträumen und einer Neigung zum Selbstmord. Andere erwähnten Eheprobleme, besonders jene, die Ehepartner ohne KZ-Erfahrung hatten, auch wenn die Partner normalerweise als verständnisvoll und hilfreich beschrieben wurden. Ein israelischer Zwilling beschrieb ein periodisch wiederkehrendes, überwältigendes Verlangen, fortzugehen – wohin auch immer. Sie packt dann buchstäblich ihre Sachen und fährt weg, zu ihrer Mutter oder zu ihrer Zwillingsschwester. Ihre Schwester verspürt den gleichen Drang, aber es fehlt ihr an Mut, tatsächlich fortzugehen. Wieder andere Zwillinge gaben zu, außerordentliche Angst davor zu haben, von ihren Kindern getrennt werden zu können.

Der israelische Wissenschaftler Davidson weist darauf hin, daß viele dieser Zwillinge noch mehr unter dem Wissen leiden, daß die mit ihnen veranstalteten Experimente absolut keinen wissenschaftlichen Wert besitzen. Anscheinend hat Mengele wirkliche Zwillinge nicht adäquat identifiziert (wir kennen drei Fälle von „Pseudo-Zwillingen“), noch irgendeine Theorie angewendet, die seinen Experimenten oder deren Interpretation eine Zielrichtung gegeben hätte. Darüber hinaus gibt es keinen Hinweis, daß er in seinen Experimenten eineiige und zweieiige Zwillinge unterschied. Scheinbar wurde nach einigen Zwillingen öfter „geschickt“ als nach anderen, die Gründe dafür sind jedoch unbekannt.

Nachdem ich mit den Zwillingen an einer Reihe sehr persönlicher Diskussionsgruppen teilgenommen habe, glaube ich, daß die Treffen der Auschwitz-Zwillinge der beste Weg sind, die Vergangenheit zu bewältigen. Viele stimmen darin überein, daß sie ihre größten persönlichen Fortschritte bei Gesprächen mit anderen Zwillingen gemacht hatten.

Das Spezifische dieser Gruppe scheint besonders wichtig zu sein. Fünf der von mir Interviewten hatten an anderen Holocaust-Gruppen teilgenommen, waren aber alle unbefriedigt. Sie fanden CANDLES deshalb so ansprechend und empfänglich für ihre eigenen Bedürfnisse, weil diese Organisation das besondere Verständnis bietet, das nur Zwillinge aufbringen können.

Durch die Bemühungen von CANDLES konnten 110 der 157 im Jahr 1945 freigelassenen Zwillingskinder ausfindig gemacht werden. Die Suche nach den anderen geht weiter.

Nancy L. Segal ist Psychologin und dem Minnesota Study of Twins Reared Apart-Projekt der University of Minnesota angeschlossen.

Das Überlebensspiel

Viele der in Auschwitz gefangenen Zwillinge überlebten durch kreatives Teamwork. Ihre „Intrigen“ sahen nicht viel anders aus als die Streiche, die Zwillinge der Familie oft aus Spaß spielen, doch war der Einsatz viel höher: Es ging um Leben und Tod.

Nachdem man der neunjährigen Eva Kor eine unbekannte Substanz injiziert hatte, bekam sie hohes Fieber und wurde ins „Krankenhaus“ eingeliefert, ein Ort von dem die Kinder wußten, daß man „nie zurückkam“. Sie wußte, daß sie um ihrer selbst und um ihrer Zwillingsschwester, Miriam Czaigher, willen zu den Baracken zurückgehen mußte und entwickelte eine kluge Strategie: Heimlich schüttelte sie das Thermometer herunter und erweckte so den Anschein, als ob das Fieber im Laufe vieler Tage schrittweise zurückging. Als sie einen Normalwert erreicht hatte, überzeugte sie das Personal, daß sie gesund sei, um entlassen zu werden.

Der neunjährige Menashe Lorency und ein anderer Zwillingsjunge, dazu abgestellt, die Suppe für die Kinder aus der Lagerküche zu holen, nutzten die Gelegenheit zum „Organisieren“ – ein Begriff der Lagerinsassen für das Beschaffen von Gütern und Proviant aus dem Lagermagazin. Menashe arrangierte es, daß seine Zwillingsschwester Leah in einem großen, leeren Suppenbehälter heimlich in die Küche getragen wurde und verschaffte ihr so Zugang zu einigen Extrabissen. Auf dem Rückweg – der Behälter war voll mit Suppe – hielt sie den Deckel und hatte so eine Erklärung für ihre Anwesenheit, falls ein SS-Mann sie zur Rede stellen sollte.

Bei einer anderen Gelegenheit rettete Menashe seine Schwester Leah vor dem Krematorium, nachdem sie im Krankenhaus aufgrund einer experimentellen Operation eine Infektion bekommen hatte. Menashe täuschte Zahnschmerzen vor und konnte so mit seiner Zwillingsschwester zusammensein. Ihm wurde zwar ein gesunder Zahn gezogen, doch konnten sich die Kinder dadurch retten, daß sie mit einer Gruppe von Kindern, denen die Rückkehr in die Baracke gestattet worden war, aus dem Krankenhaus hinausschlichen.

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