„Ich könnte es mir leicht machen und eine literarische Deutung des Bildes versuchen: Wiederholt hier eine Frau das berühmte Experiment von Henry David Thoreaus Walden oder Leben in den Wäldern und versucht, auf den wenigen Quadratmetern ihrer Blockhütte sich selbst und den Sinn des Lebens zu finden? Aber stattdessen lässt mich das Bild an einen ganz anderen Roman denken. „Hier ist entweder ein Mord geschehen oder eine Leiche fotografiert.“ Eine meine Lieblingsliteraturkritiken stammt von Kurt Tucholsky, der anlässlich der ersten Übersetzung von James Joyces Großroman Ulysses durch Georg Goyert 1927 diesen wunderbaren Satz schrieb.
Dieses Bild zeigt in meinen Augen eine Frau, die mit dem hübsch in Packpapier eingeschlagenen Unterschenkel ihres Opfers aus der Tür einer Jagdhütte tritt und nun ein Postamt sucht, in dem sie peu à peu die Leichenteile entsorgen kann, indem sie sie als Lyrikmanuskripte getarnt an Verlage schickt. Niemand, wirklich niemand sieht sich in einem deutschen Verlag heute das Manuskript eines unverlangt eingesandten Gedichtbands an, daher hat die Dame eine todsichere Methode gefunden, die Leiche loszuwerden.“
Was könnte Ihre Bildbeschreibung mit Ihnen persönlich zu tun haben?
„Aus dem Leben und der Kriminalstatistik weiß ich, dass man in der Regel nicht von einem dunkel durch den Garten huschenden Schatten ermordet wird, sondern von Menschen, zu denen man zu einem früheren Zeitpunkt seines Lebens einmal ‚Liebling‘ oder ‚Schatz‘ gesagt hat. Interessant ist natürlich auch, dass ich die androgyne Gestalt überhaupt als Frau identifiziere und dann auch noch als Mörderin. An dieser Stelle breche ich ab und gebe mir für den Rest des Tages Mühe, sehr nett zu meiner Frau zu sein.“
Literaturkritiker Denis Scheck moderiert die TV-Sendungen druckfrisch (Das Erste) und lesenswert (SWR Fernsehen). Soeben erschien sein mit Christina Schenk verfasstes Buch Der undogmatische Hund über ihren Jack-Russell-Terrier und die Weltliteratur.