Wie gelingt es, in einer Therapie gut über Sex zu sprechen?

In Psychotherapien wird häufig über sehr schwere Themen gesprochen. Warum nicht häufiger über Sex?

Die Diplompsychologin und Autorin, Karina Kehlet Lins
Karina Kehlet Lins ist Diplompsychologin und systemische Sexual- und Familientherapeutin. © Jan Rieckhoff

Wie kommt es, dass in Psychotherapien über Tod, Unfälle, schwere Erkrankungen gesprochen wird, das Thema Sex aber so häufig unterbelichtet oder gar völlig außen vor bleibt?

Sex ist – trotz der allgegenwärtigen Präsenz in den Medien – weiterhin ein schambehaftetes Thema. Auch bei Therapeuten ruft es viele eigene Unsicherheiten hervor. In den meisten therapeutischen Ausbildungen wird Sexualität außerdem als Thema nicht miteinbezogen. Therapeuten haben fast alle schon mal etwas von den verschiedenen Phasen von Trauer gehört, die wenigsten aber von den verschiedenen Phasen des sexuellen Reaktionszyklus. Also fehlen nicht nur die Wörter, es fehlt auch das Wissen, dass man schon mit kleinen Interventionen sehr viel erreichen kann. Weiterhin fehlen der kollegiale Austausch, der auf ein Gespräch über Sex gut vorbereiten könnte, und die Chance, sich mit sich selbst und der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen.

Wie findet der Therapeut heraus, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, über Sexualität zu sprechen?

Man sollte das Thema schon früh in einer Therapie thematisieren, denn Sexualität ist ein wichtiger Punkt und kann sogar ein Problemverstärker sein. Klienten sind dafür oft sehr dankbar, auch wenn sie nicht sofort in das Thema einsteigen – manche brauchen etwas Anlauf. Spricht man als Therapeut das Thema an, signalisiert man die eigene Aufgeschlossenheit und Klienten fühlen sich gut aufgehoben, da man über schwierige Themen sprechen kann. Wenn ein Klient eine Krisensitzung benötigt, muss man das Thema Sex nicht unbedingt ansprechen. Aber in allen anderen Sitzungen kann man es gut aufnehmen, während man versucht, einen Überblick über das Leben des Klienten zu erhalten.

Wie könnte der Therapeut ein Gespräch über Sex einleiten?

Zum Beispiel so: „In dieser ersten Sitzung werde ich ein paar Themen anschneiden, um einen übergeordneten Einblick in Ihre Situation zu bekommen. Sie entscheiden natürlich immer selbst, worüber Sie sprechen möchten.“

In einem Erstgespräch mit einem depressiven Patienten könnte man das Thema Sexualität etwa so einführen: „Manche Leute kommen mit mehreren Problemen auf einmal zu mir, die Probleme gehen manchmal ineinander über. Bei depressiven Symptomen kann sich das zum Beispiel auch auf das Sexualleben auswirken. Darüber können wir hier auch gerne reden, wenn Sie möchten.“

Welche Fallgruben sollten Therapeuten bei Gesprächen über Sex umgehen?

Nicht normativ denken! Der Gedanke „Männer wollen Sex und Frauen wollen Zärtlichkeit“ ist längst überholt. Die Sexualität, genau wie die Geschlechts­identität und sexuelle Orientierung, wird nach und nach ein Kontinuum – es gibt eher ein Spektrum statt fester Eigenschaften und enger Kategorien. Therapeuten sollten kritisch sein gegenüber den generalisierenden Floskeln, die man in der Gesellschaft immer noch pflegt. Dazu gehört auch, kritisch gegenüber der Idee zu sein, dass Sex „dazugehört“ oder dass Sex immer gut sei. Nur weil man Sexualtherapeut ist, muss man kein Sexmissionar werden.

Wie wirkt sich die Thematisierung des Sexuallebens auf die Beziehung zwischen Klient und Therapeut aus?

Positiv! Das habe ich selbst oft in Sitzungen erlebt, aber auch die Forschung hat es belegt. Mit anderen Worten: Es gibt nichts zu verlieren, nur viel zu gewinnen.

Karina Kehlet Lins ist Diplompsychologin und systemische Sexual- und Familientherapeutin. Ihre Arbeitsgebiete und Schwerpunkte sind die Paartherapie, Sexualtherapie und LGBTQIA+

Karina Kehlet Lins’ Buch Sprechen über Sex ist im Carl-Auer-Verlag erschienen (mit einem Geleitwort von Ann-Marlene Henning und einem Vorwort von Tom Levold). Aus dem Dänischen von Dorthe Seifert (124 S., € 21,95)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2020: So gelingt Entspannung
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