Die soziale Unsicherheit akzeptieren

In ihrem Buch erklärt Anne Otto, warum es normal ist, sich in sozialen Situationen unsicher zu fühlen. Sie lädt ein, sich mit der Angst anzufreunden.

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 12/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezensionen aus der Dezemberausgabe 2024. © Psychologie Heute

Sei es auf der Bühne, im Meeting, beim Date oder auf einer Party – viele Menschen kennen die Angst, sich zu blamieren. Kein Wunder, findet Anne Otto, denn schließlich leben wir in einem verunsichernden Zeitalter. In den sozialen Medien findet ständige Bewertung statt, unsichere Beziehungen und die flexible Arbeitswelt setzen uns permanent neuen sozialen Situationen aus und durch die Isolation der Coronapandemie haben wir sozialen Kontakt zeitweise verlernt. In ihrem neuen Buch Die Kraft der Unsicherheit erklärt die Autorin, Journalistin und psychologische Beraterin mithilfe der Fallgeschichten mehrerer Personen, wie soziale Unsicherheit entsteht und wie man lernt, mit ihr umzugehen.

Die (echten) Fallgeschichten sind so gewählt, dass sich fast jeder unsichere Mensch irgendwo wiederfindet. Da ist zum Beispiel die Lektorin, die lernen muss, vor vielen unbekannten Menschen ihr Buchprogramm zu präsentieren, oder die junge Führungskraft, die plötzlich verschiedene neue Rollenerwartungen auf einmal erfüllen muss und darauf mit Panikattacken reagiert.

Besonders inspirierend ist die Geschichte von der Grafikerin Nadine Cerny, die als sensible, schüchterne Person eine Nische gefunden hat, in der sie sich wohlfühlt und deshalb ihre Unsicherheit nicht als Problem wahrnimmt.

Verletzlichkeit schafft Verbindung

Der Praxiscoaching-Teil bietet den Leserinnen und Lesern Reflexionsübungen und Aufgaben für den Alltag. Es geht dabei nicht darum, selbstbewusster zu werden oder die Unsicherheit loszuwerden, sondern sich selbst anzunehmen, wie man ist, und aus dem Teufelskreis der Vermeidung auszubrechen. Otto verwendet das Sinnbild der Angst als Monster, das man an die Hand nimmt – oder in die letzte Reihe des metaphorischen Busses verbannt, an dessen Steuer man sitzt. Die Angst darf dabei sein, sie soll nur nicht das Geschehen kontrollieren. Die Tipps sind weder neu noch besonders originell, aber für Menschen, die sich zum ersten Mal mit ihrer Unsicherheit beschäftigten, auf jeden Fall ein guter Leitfaden.

Vor allem aber betont die Autorin, dass Unsicherheit auch Vorteile mit sich bringt; unsichere Personen versuchen nämlich so sehr, Beschämung zu vermeiden, dass sie ständig mit allen Sinnen am sozialen Geschehen hängen – das ist einerseits anstrengend, sorgt aber andererseits dafür, dass sie meist besonders einfühlsam und sensibel mit anderen Menschen umgehen, Gruppendynamiken gut deuten können und ein ausgesprochen gutes Gedächtnis für Gesichter haben.

Otto ruft dazu auf, zu der eigenen Unsicherheit zu stehen, im Zweifelsfall auch offen darüber zu sprechen. Denn wie sie abschließend feststellt: „Offenheit ist Verletzlichkeit. Verletzlichkeit schafft Verbindung. Und Verbindung gibt Sicherheit.“

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2024: So wird es leichter mit den Eltern
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