Dieser Artikel von Mihaly Csikszentmihalyi ist zuerst erschienen als Titelgeschichte in Psychologie Heute 01/1992.
Im Zuge des 50-jährigen Jubiläums von Psychologie Heute empfiehlt die Redaktion Artikel aus jedem Jahrzehnt seit Bestehen unseres Magazins.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Glücklich sein" von Mihaly Csikszentmihalyi (Originaltitel: Flow - The Psychology of Optimal Experience). Der Text wurde inhaltlich unverändert übernommen. Zur besseren Lesbarkeit wurden Zwischenüberschriften nachträglich eingefügt.
Mihaly Csikszentmihalyi ist Professor für Psychologie an der Universität von Chicago. In den frühen sechziger Jahren beobachtet er eine Gruppe von Malern, Bildhauern und Tänzern, deren nahezu fanatische Hingabe an ihre Arbeit ihn faszinierte. Diese Menschen schien während des Schaffens kein Gedanke an Geld oder Erfolg zu plagen, sie „gingen im Tun auf", nichts konnte sie ablenken, sie vergaßen sich und die Welt. In den folgenden Jahren untersuchte Csikszentmihalyi, Sohn ungarischer Emigranten, die Psychologie des Flow systematisch: Welche Art von Tätigkeit kann diese „positive Sucht" erzeugen?
Zunächst konzentrierte er sich auf die „Experten" des Flow - Bergsteiger, Schachspieler, Künstler, Chirurgen. Sein erstes Buch (auf deutsch 1975 erschienen) beschrieb die Zustände der Selbstvergessenheit „jenseits von Angst und Langeweile". Flow definiert er als die optimale Herausforderung an das Können und Wissen eines Menschen und seine Absorption durch diese Aufgabe. In den letzten Jahren versuchte er, Flow-Möglichkeiten auch im Alltag „gewöhnlicher" Menschen zu finden: Lassen sich Arbeit, Freizeit, Spiel und Kommunikation so organisieren, daß sie „an sich" Freude machen, ohne daß materielle Anreize oder die Anerkennung durch andere nötig sind?
Csikszentmihalyi beantwortet diese Frage mit einem bedingten Ja. Flow ist möglich, wenn wir lernen, Situationen so zu strukturieren, daß sie „autotelische" Tätigkeiten beinhalten - das Tun selbst muß zum Ziel werden. Solche Tätigkeiten - die uns schließlich das „Glück pur" verschaffen können - sind oft anstrengend, manchmal sogar gefährlich, aber nie langweilig.
Csikszentmihalyis Psychologie der Freude basiert auf der Kontrolle unserer inneren Erfahrungen und auf der Erkenntnis, daß Glück die Bereitschaft zu Anstrengung und Mühe voraussetzt.
Warum haben wir diesen Artikel ausgewählt?
Redakteurin Elke Hartmann-Wolff über den Artikel „FLOW Die sieben Elemente des Glücks":
„Der Mensch ist ein Prothesengott“ schrieb dereinst Freud und prägte damit unser Selbstverständnis als heilloses Mängelexemplar. Versehrt, unvollständig und krank – einzig die Psychotherapie verspricht Besserung. Folgerichtig kreiste die Psychologie um die Erkundung unserer vielfältigen Defizite. Und dann – wie aus dem Nichts – geraten wir dank des US-Psychologen Mihaly Czikszentmihalyi in den Flow, wir flottieren dahin auf der wunderbaren Idee einer „optimalen Erfahrung“ durch unser Tun. „Man ist so in die Tätigkeit vertieft, daß sie spontan, fast automatisch wird“, so Czikszentmihalyi. Dabei stelle sich das „Gefühl der Selbsttranszendenz“ ein, was dazu führe, dass „die Grenzen des Seins ausgedehnt werden können“.
Im Januar 1992 widmete Psychologie Heute dem Thema mit einem Vorabdruck von Czikszentmihalyis Buch, das zum Weltbestseller anvancierte, eine Titelgeschichte und bewies damit Weitsicht. Die Theorie des Flow löste eine neue Welle aus: die Positive Psychologie formierte sich und zeigte uns die positiven Seiten des Menschseins. Für mich steht fest, dass es genau diese Themen sind, die zur Popularität der Psychologie beigetragen haben.
Wenn wir Menschen sehen, die reich, berühmt oder schön sind, glauben wir, ihr Leben sei erfüllt, obwohl alles darauf hindeutet, daß es in Wirklichkeit unglücklich ist. Und wir nehmen an, wir wären viel glücklicher, wenn wir nur einen Teil dieser Symbole errängen. Doch Symbole können täuschen: Sie lenken uns von der Realität ab, die sie angeblich abbilden. Und die Realität ist, daß die nicht direkt davon abhängt, wie andere über uns denken oder was wir besitzen, sondern eher davon, wie wir uns selbst fühlen und wie wir darüber denken, was mit uns geschieht. Um das Leben zu verbessern, muß man die Qualität der Erfahrungen verbessern.
Statt sich Sorgen darüber zu machen, wie man eine Million herbeischafft oder Freunde gewinnt und Menschen beeinflußt, scheint es nützlicher herauszufinden, wie man das Alltagsleben harmonischer und befriedigender gestaltet.
Gefragt, welche Dinge das Leben besser machen, denken die meisten Menschen zunächst, das Glück bestünde aus Vergnügungen. Vergnügen ist ein Gefühl von Zufriedenheit, das man immer dann empfindet, wenn eine Information im Bewußtsein uns sagt, daß die Erwartungen erfüllt wurden, die das biologische Programm oder gesellschaftliche Konditionierung gesetzt haben. Wenn man hungrig ist, macht einem das Essen Spaß, weil es ein körperliches Ungleichgewicht reduziert. Abends ausruhen und passiv Informationen der Medien aufnehmen, ist angenehm entspannend. Nach Acapulco verreisen ist schön, weil die Neuartigkeit unsere Sinne belebt, die von der immer gleichen Routine des Alltagslebens abgestumpft wurden, und weil wir wissen, daß die „Reichen und Glücklichen" auf diese Weise ihre Zeit verbringen.
Vergnügen ist wichtig, aber schafft allein kein Glück
Vergnügen ist ein wichtiger Bestandteil der Lebensqualität, schafft jedoch an sich noch kein Glück. Schlaf, Ruhe, Essen und Sex bringen homöostatische Erfahrungen, die das Bewußtsein ordnen, wenn die Bedürfnisse des Körpers sich bemerkbar gemacht und psychische Entropie ausgelöst haben. Aber sie bewirken kein psychologisches Wachstum. Sie vermitteln dem Selbst keine Komplexität. Vergnügen hilft, die Ordnung aufrechtzuerhalten, doch an sich kann es keine neue Ordnung im Bewußtsein schaffen.
Wenn man weiter darüber nachdenkt, was das Leben lebenswert macht, geht man über angenehme Erinnerungen hinaus und kommt auf andere Vorfälle, andere Erfahrungen, die mit angenehmen überlappen, aber in eine Kategorie fallen, die einen anderen Namen verdient: Freude. Freude findet statt, wenn man nicht nur eine bestehende Erwartung, ein Bedürfnis oder einen Wunsch erfüllt hat, sondern über seine Vorprogrammierung hinausging und etwas Unerwartetes erreichte, vielleicht etwas, was man sich vorher nicht einmal vorgestellt hat.
Diese Vorwärtsbewegung zeichnet die Freude aus, ein Gefühl, daß etwas neuartig ist, daß man etwas erreicht hat. Ein Tennisspiel, das einen bis an die Leistungsgrenze führt, macht Freude, ebenso das Lesen eines Buches, das einem bestimmte Dinge in neuem Licht zeigt, eine Unterhaltung, die einen anregte, Gedanken auszudrücken, die einem zuvor nicht bewußt waren. Einen schwierigen Geschäftsabschluß tätigen oder irgendeine andere Arbeit erfolgreich abschließen ist erfreulich. Keine dieser Erfahrungen ist vielleicht zum gegebenen Zeitpunkt besonders angenehm, doch hinterher denkt man daran zurück und sagt: „Das hat wirklich Spaß gemacht", und wünscht sich, es würde noch einmal passieren. Nach einem erfreulichen Ereignis wissen wir, daß wir uns verändert haben, daß das Selbst gewachsen ist: In gewisser Hinsicht sind wir dadurch komplexer geworden.
Erfahrungen, die Vergnügen bereiten, können ebenfalls Freude machen, aber die beiden Gefühle sind recht unterschiedlich. Jeder hat zum Beispiel Spaß am Essen. Freude am Essen ist jedoch etwas anderes. Ein Gourmet hat Freude am Essen, wie jeder andere, der einer Mahlzeit genügend Aufmerksamkeit schenkt, um die verschiedenen dadurch ausgelösten Gefühle unterscheiden zu können. Dieses Beispiel zeigt, daß wir Vergnügen ohne den Einsatz psychischer Energie erleben können, doch Freude findet nur als Folge ungewöhnlicher Aufmerksamkeit statt.
Man kann ohne jede Mühe Vergnügen empfinden, wenn die entsprechenden Gehirnzellen elektrisch oder als Folge einer chemischen Substanz stimuliert werden. Es ist jedoch unmöglich, ein Tennisspiel, ein Buch oder eine Unterhaltung als angenehm zu empfinden, wenn man sich nicht völlig auf diese Aktivität konzentriert.
Kinder lernen in der ersten Lebensjahren tagtäglich Neues
Aus diesem Grund ist Vergnügen so flüchtig, wächst das Selbst bloß aufgrund angenehmer Erfahrungen nicht. Um Komplexität zu erreichen, muß man Energie in neue Ziele investieren, die eine relative Herausforderung darstellen. Diesen Prozeß kann man bei Kindern leicht beobachten. In den ersten Lebensjahren ist jedes Kind eine kleine „Lernmaschine", die tagtäglich neue Bewegungen und neue Worte ausprobiert. Die entzückte Konzentration auf dem Gesicht des Kindes, wenn es eine neue Fertigkeit erlernt, ist ein gutes Zeichen für Freude. Und jeder einzelne erfreuliche Lernprozeß trägt zur Komplexität des sich entwickelnden Selbst beim Kind bei.
Leider scheint diese natürliche Verbindung zwischen Wachstum und Freude mit der Zeit zu verschwinden. Vielleicht erschöpft sich die Aufregung beim Beherrschen neuer Fertigkeiten allmählich, wenn „lernen" nach dem Schulanfang zu einem äußeren Druck wird. Allzu leicht findet man sich in der Reifezeit mit den engen Grenzen des Selbst ab. Doch wenn man zu selbstzufrieden wird, das Gefühl hat, der Einsatz psychischer Energie in neue Richtungen sei eine Verschwendung, es sei denn, man erntet wesentliche Belohnungen dafür, gewinnt man dem Leben vielleicht keine Freude mehr ab, und Vergnügen werden zur einzigen anderen Quelle positiver Erfahrungen.
Man kann das Leben ohne Freude aushalten, es kann sogar angenehm sein. Aber es steht, abhängig von Glücksfällen und der Kooperation der Umwelt, immer auf der Kippe. Wenn man jedoch persönliche Kontrolle über die Qualität von Erfahrungen erlangen will, muß man lernen, wie man das mit Freude füllen kann, was man tagein, tagaus erlebt.
Die sieben Komponenten der Freude
Aus unseren Studien geht hervor, daß die Phänomenologie der Freude sieben Hauptkomponenten beinhaltet. Wenn Menschen darüber nachdenken, wie sie sich fühlen, wenn eine Erfahrung höchst positiv ist, nennen sie zumindest eine, oft auch alle anderen:
1. Die Erfahrung findet gewöhnlich statt, wenn wir auf eine Aufgabe stoßen, der wir uns gewachsen fühlen.
2. Wir müssen fähig sein, uns auf das zu konzentrieren, was wir tun.
3. Die Konzentration ist gewöhnlich möglich, weil die angefangene Aufgabe deutliche Ziele beinhaltet und unmittelbar Rückmeldung liefert.
4. Man handelt mit einer tiefen, aber mühelosen Hingabe, welche die Sorgen und Frustrationen des Alltagslebens aus dem Bewußtsein verdrängt.
5. Erfreuliche Erfahrungen machen es möglich, ein Gefühl von Kontrolle über Tätigkeiten zu erleben.
6. Die Sorgen um das Selbst verschwinden.
7. Und schließlich ist das Gefühl für Zeitabläufe verändert; Stunden vergehen in Minuten, Minuten können sich vermeintlich zu Stunden ausdehnen.
Die Kombination dieser Elemente ruft ein tiefes Gefühl von Freude hervor, welches so lohnend ist, daß man bereit ist, viel Energie dafür aufzuwenden, um es wieder zu erleben. Sehen wir uns die einzelnen Elemente genauer an, um besser zu begreifen, was erfreuliche Aktivitäten so erstrebenswert macht. Mit diesem Wissen ist es möglich, Kontrolle über das Bewußtsein zu erlangen und selbst die eintönigsten Momente des Alltagslebens in Ereignisse zu verwandeln, die dem Selbst helfen zu wachsen.
Manchmal wird ohne ersichtlichen Grund von Erlebnissen extremer Freude oder gar Ekstase berichtet, ausgelöst etwa durch ein paar Takte Musik, eine wunderbare Aussicht oder noch weniger; dies ruft ein spontanes Gefühl von Wohlbefinden hervor. Doch die bei weitem größte Anzahl optimaler Erfahrungen erfolgt den Angaben nach bei Aktivitäten, die zielgerichtet und durch Regeln gebunden sind - Aktivitäten, für die man psychische Energie einsetzen muß und die ohne entsprechende Fähigkeiten nicht ausgeführt werden können. Warum das so ist, wird uns im weiteren klar werden; hier reicht es, anzumerken, daß dies universell der Fall zu sein scheint.
Aktivitäten und Fähigkeiten müssen nicht körperlich sein
Wir müssen gleich zu Beginn klar machen, daß eine „Aktivität" nicht im körperlichen Sinne aktiv zu sein braucht, und die „Fähigkeit", die dazu notwendig ist, keine körperliche Fähigkeit sein muß. Eine der am häufigsten erwähnten erfreulichen Aktivitäten in der Welt ist Lesen. Lesen ist eine Aktivität, denn man braucht dazu Konzentration und Aufmerksamkeit, und es hat ein Ziel; um es zu tun, muß man den Regeln der Schriftsprache folgen.
Dazu benötigt man nicht allein die Lesefähigkeit an sich, sondern die Fähigkeit, Worte in Bilder zu übertragen, sich mit erfundenen Personen zu identifizieren, historische und kulturelle Kontexte zu erkennen, Handlungsabläufe vorherzusehen, den Stil des Autors zu kritisieren und einzuschätzen usw. In diesem weiteren Sinne ist jede Kompetenz, symbolische Informationen zu manipulieren, eine „Fähigkeit", wie die des Mathematikers, im Kopf quantitative Beziehungen zu formen, des Musikers, Noten miteinander zu verbinden.
Eine weitere universell erfreuliche Aktivität ist das Zusammensein mit anderen Menschen. Gesellschaft mit anderen mag auf den ersten Blick die Ausnahme zu der Behauptung zu sein, man bräuchte Fähigkeiten, um eine Aktivität zu genießen, denn es scheint, daß man zum Plaudern und Scherzen mit anderen keine besonderen Fertigkeiten braucht. Doch das tut man natürlich, wie so viele schüchterne Menschen wissen. Denn wenn man sich verlegen fühlt, fürchtet man informelle Kontakte und meidet Gesellschaft möglichst.
Jede Aktivität enthält zahlreiche Handlungsmöglichkeiten oder „Herausforderungen", zu denen man angemessene Fähigkeiten benötigt. Für diejenigen, die nicht über die richtigen Fähigkeiten verfügen, ist die Aktivität nicht herausfordernd, sondern einfach bedeutungslos. Beim Aufstellen der Schachfiguren steigt beim Spieler der Blutdruck an; es läßt aber jeden kalt, der die Spielregeln nicht kennt. Für die meisten Menschen ist die senkrechte Felswand von El Capitan im Yosemite-Valley nur ein großer, ungeformter Steinbrocken. Für den Bergsteiger stellt sie aber einen Schauplatz dar, der ihm eine unendlich komplexe Symphonie geistiger und körperlicher Herausforderungen bietet.
Wettkampfsituationen als anregende Herausforderung
Eine einfache Methode, Herausforderungen anzunehmen, ist, sich in eine Wettbewerbssituation zu begeben. Darauf beruht auch die große Anziehungskraft aller Spiele und Sportarten, bei denen eine Person oder eine Mannschaft gegen eine andere antritt. Wettbewerb ist in vieler Hinsicht ein schneller Weg, Komplexität zu entwickeln. „Der, der mit uns ringt", schrieb Edmund Burke, „stärkt unsere Nerven und schärft unsere Fähigkeiten. Unser Antagonist ist unser Helfer." Die Herausforderungen eines Wettkampfes können anregend und erfreulich sein. Doch wenn das Besiegen des Gegners in Gedanken mehr Raum einnimmt als so gut wie möglich kämpfen zu wollen, verschwindet die Freude leicht. Ein Wettkampf ist erfreulich, wenn er als Mittel dient, Fähigkeiten zu verbessern; wenn er zum Ziel an sich wird, hört der Spaß auf.
Aber Herausforderungen sind keineswegs auf Wettbewerbe oder körperliche Aktivitäten beschränkt. Sie sind notwendig, um selbst in Situationen Freude zu schaffen, in denen man sie nicht erwartet. Hier läßt sich zum Beispiel ein Zitat aus einer unserer Studien nennen, die Bemerkung eines Kunstexperten, der die Freude beim Anblick eines Gemäldes beschreibt, etwas, was die meisten Menschen als einen unmittelbaren, intuitiven Prozeß beschreiben würden: „Viele der Objekte, die einem begegnen, sind eher schlicht… und man findet an ihnen nichts aufregendes, aber andere Bilder stellen irgendwie eine Herausforderung dar... die Objekte, die einem im Gedächtnis haften bleiben, sind die interessantesten." Mit anderen Worten, selbst die passive Freude beim Anblick eines Gemäldes oder einer Skulptur hängt von den Herausforderungen ab, die dieses Kunstwerk in sich birgt.
Bei allen Aktivitäten, über die die Teilnehmer unserer Studien berichteten, tritt Freude an einem ganz bestimmten Punkt auf: Wenn die Handlungsmöglichkeiten von einer Person als ihren Fähigkeiten entsprechend eingestuft wird. Tennisspielen ist beispielsweise nicht erfreulich, wenn Gegner schlecht zueinander passen. Der weniger geschickte Spieler wird sich unsicher fühlen, der bessere gelangweilt. Das gleiche gilt für jede andere Aktivität: Ein Musikstück, das für bestimmte Hörgewohnheiten zu einfach ist, wird als langweilig empfunden, eines, das zu komplex ist, als frustrierend. Freude tritt an der Grenze zwischen Langeweile und Unsicherheit auf, wenn sich die Herausforderungen mit den Fähigkeiten des Menschen die Waage halten.
Wenn alle wichtigen Fähigkeiten eines Menschen benötigt werden, um die Herausforderungen einer Situation zu bewältigen, ist seine Aufmerksamkeit vollständig von dieser Aktivität gefesselt. Es gibt keine überschüssige psychische Energie, um andere Informationen zu verarbeiten, außer jenen durch die Aktivität gebotenen. Alle Aufmerksamkeit ist auf die wichtigen Reize zentriert. Daraufhin erlebt man eines der universalsten und charakteristischsten Kennzeichen optimaler Erfahrung: Man ist so in die Tätigkeit vertieft, daß sie spontan, fast automatisch wird. Man nimmt sich nicht mehr als unabhängig von der verrichteten Tätigkeit wahr.
Handeln und Bewusstsein sind eins
Eine Tänzerin beschreibt, wie sie sich fühlt, wenn ihre Vorstellung gut läuft: „Deine Konzentration ist vollständig. Deine Gedanken wandern nicht herum. Du denkst an nichts anderes: Du bist total in Deinem Tun absorbiert... Deine Energie fließt sehr leicht. Du fühlst dich entspannt, angenehm und energievoll." Ein Bergsteiger erklärt, wie er sich fühlt, wenn er eine Felswand durchklettert: „Man ist dermaßen in der Tätigkeit ,drinnen', daß einem kein von der unmittelbaren Tätigkeit unabhängiges ,Ich' in den Sinn kommt… Man sieht sich selbst nicht getrennt von dem, was man tut."
Eine Mutter, die das Zusammensein mit ihrer kleinen Tochter genießt, sagt: „Lesen gehört zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, und wir lesen oft zusammen. Sie liest mir vor, und ich lese ihr vor, und dann verliere ich den Kontakt mit dem Rest der Welt. Ich bin völlig in das vertieft, was ich tue." Ein Schachspieler beschreibt ein Turnier. „... die Konzentration ist wie das Atmen - man denkt nie daran. Das Dach könnte einstürzen, und man würde es - falls es einen nicht direkt trifft - nicht bemerken."
Aus diesem Grund nennen wir optimale Erfahrungen „flow". Dieses kurze, einfache Wort beschreibt sehr gut das Gefühl scheinbar müheloser Bewegung. Die folgenden Worte eines Dichters und Bergsteigers treffen den Kern tausender Interviews, die wir und andere im Laufe vieler Jahre zusammengetragen haben:
„Die Mystik des Kletterns im Fels ist das Klettern; man steht schließlich oben auf dem Fels, ist froh darüber und wünscht sich doch, daß es immer so weiterginge. Der Grund des Kletterns liegt im Klettern, genau wie der Grund für das Dichten im Schreiben selbst liegt; man erobert nichts anderes als Dinge, welche in einem Selbst liegen… Die Handlung des Schreibens rechtfertigt das Dichten. Beim Klettern ist es dasselbe: Erkennen, daß man ein einziges Fließen ist. Der Zweck dieses Fließens ist, im Fließen zu bleiben, nicht Höhepunkte oder utopische Ziele zu suchen, sondern im flow zu bleiben. Es ist keine Aufwärtsbewegung, sondern ein kontinuierliches Fließen; aufwärts klettert man nur, um den flow im Gang zu halten. Es gibt keine andere Begründung für das Klettern, als das Klettern selber; es ist eine Art Selbstkommunikation."
Flow-Erfahrungen erscheinen einem zwar mühelos, aber das trifft keineswegs zu. Oft bedarf es dazu schwerer körperlicher Anstrengung oder einer hochdisziplinierten geistigen Aktivität. Sie sind ohne Geschicklichkeit und Leistung nicht möglich. Jedes Nachlassen der Konzentration löscht die Erfahrung aus. Doch während sie andauert, arbeitet das Bewußtsein geschmeidig; nahtlos folgen die Tätigkeiten aufeinander. Im normalen Leben unterbrechen wir, was immer wir tun, mit Zweifeln und Fragen. „Warum mache ich das? Sollte ich nicht lieber etwas anderes tun?" Immer wieder stellen wir die Notwendigkeit der Aktivität in Frage und schätzen kritisch die Gründe ein, warum wir sie ausführen. Im flow besteht keine Notwendigkeit zur Reflexion, da die Handlung uns wie durch Zauber weiterträgt.
Klare Ziele und Rückmeldungen
Grund für derart absolute Vertiefung in einer flow-Erfahrung ist, daß die Ziele gewöhnlich deutlich umrissen sind und die Rückmeldung unmittelbar erfolgt. Eine Tennisspielerin weiß in jedem Augenblick ganz genau, was sie zu tun hat: Den Ball ins Feld des Gegners zurückschlagen. Und jedes Mal, wenn sie den Ball trifft, weiß sie, ob sie es gut gemacht hat oder nicht. Die Ziele des Schachspielers sind fast ebenso offensichtlich. Er muß den König des Gegners Matt setzen, ehe dies mit seinem passiert. Bei jedem Zug kann er berechnen, wie nahe er diesem Ziel gekommen ist. Der Bergsteiger an einer senkrechten Felswand hat ein sehr einfaches Ziel vor Augen: er muß den Aufstieg beenden ohne zu stürzen. Jede Sekunde, Stunde um Stunde, erhält er Informationen, daß er sich diesem Grundziel nähert.
Wenn man ein triviales Ziel wählt, bereitet der Erfolg natürlich keine Freude. Wenn ich es als Ziel betrachte, am Leben zu bleiben, solange ich auf dem Sofa sitze, könnte ich Tage in der Erkenntnis verbringen, es zu erreichen, genau wie der Bergsteiger. Aber diese Erkenntnis macht mich nicht besonders glücklich, während die Erkenntnis des Bergsteigers für den gefährlichen Abstieg große Freude bringt.
Bestimmte Tätigkeiten dauern lange bis zum Abschluß, doch auch für sie sind die Elemente von Ziel und Rückmeldung immer noch sehr wichtig. Ein Beispiel wurde uns von einer zweiundsechzigjährigen Frau gegeben, die in den italienischen Alpen lebt. Sie gab an, ihre schönsten Erlebnisse seien die Versorgung der Kühe und die Pflege des Obstgartens. „Besondere Befriedigung finde ich dabei, mich um die Pflanzen zu kümmern: Ich liebe es, sie Tag für Tag wachsen zu sehen. Das ist sehr schön." Das bedeutet zwar eine lange Phase geduldigen Wartens, doch das Zusehen, wie die Pflanzen, die man hegt und pflegt, wachsen, gibt einem selbst in einer Stadtwohnung eine intensive Rückmeldung.
Ein weiteres Beispiel ist die Alleinüberquerung des Ozeans, bei der man vielleicht wochenlang einsam in einem kleinen Boot sitzt, ohne jemals Land zu sehen. Jim Macbeth, der eine Untersuchung über Flow bei Ozeanüberquerungen machte, berichtet von der Erregung des Seglers, der, nachdem er tagelang die leeren Wasserflächen betrachtet hat, plötzlich den Umriß einer Insel am Horizont ausmacht, die er angepeilt hat. Einer der bekannteren Segler beschreibt dieses Gefühl so: „Ich... erlebte ein Gefühl von Befriedigung, verbunden mit Staunen, daß meine Beobachtungen der fernen Sonne von einer unsicheren Plattform aus, sowie die Benutzung einfacher Tabellen... mich befähigt hatten, eine kleine Insel nach einer Ozeanüberquerung sicher zu finden."
Richtig oder falsch? Das Ziel ist nicht immer eindeutig
Die Ziele einer Aktivität sind nicht immer so eindeutig wie beim Tennis, und die Rückmeldungen oft eher zweideutig als die einfache „Ich falle nicht"-Information des Bergsteigers. Ein Komponist zum Beispiel weiß vielleicht, daß er ein Lied oder ein Flötenkonzert schreiben will, aber abgesehen davon sind seine Ziele eher verschwommen. Und woher weiß er, ob die Noten, die er aufzeichnet, „richtig" oder „falsch" sind? Die gleiche Situation trifft auf einen Maler zu, der an einem Bild arbeitet, ja, auf alle Aktivitäten, die ihrem Wesen nach kreativ sind oder einen offenen Ausgang haben. Doch das sind alles Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Wenn man nicht lernt, sich ein Ziel zu setzen, und Rückmeldungen in diesen Aktivitäten nicht erkennt und beurteilt, wird man sich nicht über sie freuen.
Bei manchen kreativen Aktivitäten, bei denen die Ziele nicht vorab eindeutig gesetzt sind, muß man ein starkes persönliches Gefühl dafür entwickeln, was man vorhat. Der Künstler hat vielleicht keine visuelle Vorstellung vom fertigen Gemälde, aber an einem bestimmten Punkt sollte er in der Lage sein, zu erkennen, ob es sich um das handelt, was er oder sie anstrebte. Und ein Maler, der Freude am Malen hat, muß Kriterien für „gut" oder „schlecht" verinnerlicht haben, damit er nach jedem Pinselstrich sagen kann: „Ja, so geht es, nein, so nicht." Ohne derartige innere Leitlinien ist es unmöglich, flow zu erfahren.
Was eine Rückmeldung, ein Feedback, ausmacht, unterscheidet sich deutlich je nach Aktivität. Manche Menschen sind gleichgültig gegenüber den Dingen, von denen andere nicht genug bekommen können. Die Art des Feedbacks an sich, auf das wir hinarbeiten, ist häufig unwichtig. Welchen Unterschied macht es, ob ich den Tennisball zwischen den weißen Linien aufprallen lasse, wenn ich den feindlichen König auf dem Schachbrett matt setze, ob ich am Ende der Therapiestunde einen Funken von Verständnis im Blick meines Patienten aufblitzen sehe? Wertvoll wird diese Information durch die darin enthaltene symbolische Botschaft: daß ich mein Ziel erreicht habe. Dieses Wissen schafft Ordnung im Bewußtsein und stärkt die Struktur des Selbst.
Fast jede Art Rückmeldung kann Freude bereiten, sofern sie in logischem Zusammenhang mit dem Ziel steht, in das man psychische Energie gesteckt hat. Wenn ich mich entschlösse, einen Spazierstock auf der Nase zu balancieren, würde der Anblick des Stocks, der über meinem Gesicht herumwackelt, mir einen kurzen Augenblick der Freude schenken. Jeder Mensch reagiert auf eine bestimmte Art von Information, die er mehr als andere zu schätzen lernt, und vermutlich hält er Feedback im Zusammenhang mit dieser Information für wichtiger als mancher andere.
Eine der am häufigsten erwähnten Dimensionen des flow-Erlebnisses ist, daß man dabei alle unangenehmen Aspekte des Lebens vergessen kann. Dieses Kennzeichen von flow ist ein wichtiges Nebenprodukt der Tatsache, daß man sich auf Aktivitäten, die Freude bereiten, vollständig konzentrieren muß - und daher im Verstand kein Raum für unwichtige Informationen bleibt.
Im normalen Alltagsleben werden wir Beute von Gedanken und Sorgen, die ungewollt ins Bewußtsein dringen. Da die meisten Berufe und besonders die Hausarbeit nicht die drängenden Herausforderungen der flow-Erfahrungen stellen, ist die Konzentration selten so stark, daß Belastungen und Ängste automatisch verdrängt werden. Daher gehören zum normalen Geisteszustand unerwartete, häufige Episoden von Entropie, die den glatten Fluß psychischer Energie stören. Das ist ein Grund, warum flow die Qualität der Erfahrung auf eine neue Stufe hebt: Die deutlich strukturierten Ansprüche der Aktivität schaffen Ordnung und verhindern den störenden Einfluß der Unordnung im Bewußtsein.
Ein Physikprofessor, der leidenschaftlich gern bergsteigen geht, beschrieb seinen Geisteszustand beim Klettern: „(Es ist), wie wenn meine Erinnerung abgeschnitten wäre. Ich habe nur Dinge im Gedächtnis, welche die jeweils letzten dreißig Sekunden betreffen, und das Vorausdenken betrifft jeweils nur die nächsten fünf Minuten." Jede Aktivität, zu der man sich derart konzentrieren muß, hat übrigens eine ähnliche kurze Zeitperspektive. Aber nicht nur die zeitliche Konzentration ist wichtig. Bedeutsamer ist, daß nur eine sehr begrenzte Anzahl von Informationen ins Bewußtsein dringen kann. Daher werden alle beunruhigenden Gedanken, die einem normalerweise durch den Kopf gehen, vorübergehend ausgeschlossen.
Ein junger Basketballspieler erklärte: Das Spielfeld - das ist alles, worauf es ankommt… Manchmal denke ich auf dem Feld an ein Problem, wie z. B. an einen Streit mit meiner Freundin, und ich denke daran, daß dies alles nichts ist im Vergleich zum Spiel. Man kann den ganzen Tag über ein Problem nachdenken, aber sobald man ins Spiel gerät, zum Teufel mit dem Problem!" Und ein anderer meinte: „Jungen in meinem Alter denken viel nach... aber während man Basketball spielt, gibt es nur dieses eine, Basketball… alles scheint sich von selbst zu geben."
Edwin Moses, der bekannte Hürdenläufer, beschreibt die Konzentration bei einem Rennen so: „Der Kopf muß absolut klar sein. Die Tatsachen, daß man mit einem Gegner fertig werden muß, mit der Zeitverschiebung nach dem Flug, anderem Essen, dem Schlafen in Hotels und persönlichen Problemen; dies alles muß aus dem Bewußtsein ausgelöscht werden - als existierte es nicht mehr." Moses sprach allerdings darüber, was nötig ist, um Weltklasserennen zu gewinnen, aber er hätte auch die Art von Konzentration beschreiben können, die man erreicht, wenn man an irgend einer anderen Sache Freude hat. Die Konzentration des flow-Erlebnisses - verbunden mit deutlichen Zielen und unmittelbarer Rückmeldung - schafft Ordnung im Bewußtsein.
Das Paradox der Kontrolle
In Spielen, beim Sport und anderen Freizeitaktivitäten, die sich vom normalen Leben abheben, erlebt man oft Freude, doch es können auch alle möglichen unangenehmen Dinge geschehen. Wenn man beim Schachspiel verliert oder bei einem Hobby einen Fehler macht, braucht man sich jedoch keine Sorgen zu machen; im „echten" Leben hingegen wird man vielleicht gekündigt, wenn man ein Geschäft verpatzt, man kann die Miete nicht mehr bezahlen und wird am Ende von Sozialhilfe abhängig. Flow-Erfahrungen jedoch werden den Beschreibungen nach allgemein mit einem Gefühl von Kontrolle verbunden - genauer, als ohne Sorge, die Kontrolle zu verlieren, die für viele alltägliche Lebenssituationen typisch ist.
Dieses Gefühl von Kontrolle wird auch bei angenehmen Aktivitäten beschrieben, die aber ernste Risiken beinhalten, Tätigkeiten, die einem Außenseiter sehr viel gefährlicher erscheinen als der Alltag. Leute, die segelfliegen, Höhlen erforschen, klettern, Auto-Rennen fahren, Tiefsee tauchen und vielen anderen Sportarten nachgehen, die Spaß machen, begeben sich absichtlich in eine Situation, die nicht über die im zivilisierten Leben vorhandenen Sicherheitsnetze verfügt. Doch alle diese Leute berichten von flow-Erfahrungen, bei denen ein verstärktes Gefühl von Kontrolle eine wichtige Rolle spielt.
Gewöhnlich deutet man die Motivation bei gefährlichen Sportarten als eine Art pathologisches Bedürfnis: Diese Menschen versuchen eine tiefsitzende Angst zu vertreiben, sie kompensieren, sie agieren zwanghaft eine ödipale Fixierung aus, sie sind "risikogeil". Zuweilen spielen derartige Motive eine Rolle, doch es fällt bei Gesprächen mit solchen Risikospezialisten auf, daß ihre Freude nicht der Gefahr selbst entspringt, sondern ihrer Fähigkeit, diese auf ein Minimum zu reduzieren. Im Gegensatz zu einem pathologischen Kitzel, Gefahren herauszufordern, empfinden sie eine positive Emotion, ein absolut gesundes Gefühl, fähig zu sein, potentiell gefährliche Kräfte zu kontrollieren.
Man sollte dabei erkennen, daß Aktivitäten, die flow-Erfahrungen auslösen, auch die scheinbar riskantesten, so aufgebaut sind, daß sie dem Ausübenden ermöglichen, entsprechende Fähigkeiten zu entwickeln, um das Risiko weitgehend auszuschalten. Felskletterer beispielsweise sprechen von zwei Arten von Gefahren, „objektiven" und » subjektiven". Beim ersten Typ handelt es sich um unvorhersehbare physikalische Ereignisse, auf die man in den Bergen stoßen kann, einen plötzlichen Sturm, eine Lawine, Steinschlag, ein drastisches Abfallen der Temperatur. Man kann sich auf solche Bedrohungen vorbereiten, sie aber niemals genau vorhersehen. Subjektive Gefahren sind diejenigen, die aufgrund mangelnder Fähigkeiten des Bergsteigers entstehen - etwa der, genau den Schwierigkeitsgrad eines Aufstiegs im Verhältnis zum eigenen Können abzuschätzen.
Objektive Gefahren vermeiden, subjektive Gefahren ausschließen
Es geht beim Klettern also darum, objektive Gefahren so weit wie möglich zu vermeiden und subjektive Gefahren durch strenge Disziplin und vernünftige Vorbereitung auszuschließen. Daher sind Bergsteiger überzeugt, das Matterhorn zu erklimmen sei weniger gefährlich als in Manhattan eine Straße zu überqueren, weil die objektiven Gefahren - Autos, Radfahrer, Busse, Taschendiebe - viel weniger vorhersehbar seien als Gefahren in den Bergen, und wo die persönlichen Fähigkeiten des Fußgängers weniger Chancen haben, für Sicherheit zu sorgen.
Dieses Beispiel veranschaulicht, daß das, was Menschen Freude bringt, nicht das Gefühl ist, Herr der Lage zu sein, sondern, in schwierigen Situationen Kontrolle auszuüben. Man kann keine Beherrschung erleben, wenn nicht bereit ist, die Sicherheit schützender Routine aufzugeben. Erst wenn ein Ausgang zweifelhaft erscheint und man in der Lage ist, diesen Ausgang zu beeinflussen, kann man tatsächlich erfahren, ob man eine Situation beherrscht.
Ein Typ von Aktivität scheint jedoch eine Ausnahme darzustellen. Glücksspiele bringen Freude, doch sie beruhen per definitionem auf einem zufälligen Ausgang, der vermutlich nicht von persönlichen Fähigkeiten abhängt. Das Drehen des Rouletterades oder das Aufdecken der Karten beim Blackjack können durch den Spieler nicht kontrolliert werden. Zumindest in diesem Fall muß das Gefühl der Kontrolle für das Erleben von Freude unwichtig sein.
Die „objektiven" Bedingungen scheinen zu täuschen, denn Glücksspieler sind tatsächlich subjektiv überzeugt, ihre Fähigkeit spiele eine wichtige Rolle für das Ergebnis. Sie betonen das Element der Kontrolle sogar noch stärker als Ausübende anderer Aktivitäten, bei denen persönliche Fähigkeiten offensichtlich größere Kontrolle ermöglichen. Pokerspieler sind überzeugt, nicht Glück, sondern ihre besonderen Fähigkeiten brächten ihnen den Gewinn; wenn sie verlieren, schieben sie es lieber auf eine Pechsträhne, doch selbst dann suchen sie eher nach einem persönlichen Fehler, um das Resultat zu erklären. Roulettespieler entwickeln komplizierte Systeme, um den Fall der Kugel vorherzusagen.
Allgemein glauben Glücksspieler oft, sie verfügten über die Gabe, in die Zukunft sehen zu können, zumindest innerhalb des beschränkten Rasters aus Zielen und Regeln, das ihr Spiel definiert. Und dieses uralte Gefühl von Kontrolle - zu dessen Vorgängern Rituale und Orakel gehören, die es in jeder Kultur gibt - ist eines der Hauptanziehungspunkte des Glücksspiels.
Das Gefühl, sich in einer Welt zu befinden, in der Entropie abgeschafft ist, erklärt teilweise, warum flow-erzeugende Aktivitäten so süchtig machen können. Schriftsteller haben oft über das Schachspiel als Metapher für die Flucht vor der Realität geschrieben. Nabokovs Kurzgeschichte „Die Luchin-Verteidigung" beschreibt ein junges Schachgenie, das so in das Spiel vertieft ist, daß der Rest seines Lebens - seine Ehe, Freundschaften, Einkommen - zerfällt. Luchin versucht, diese Probleme zu bewältigen, ist aber nur fähig, sie so wie Schachsituationen zu erkennen. Seine Frau ist die weiße Dame auf dem fünften Feld der dritten Reihe, bedroht vom schwarzen Ritter, Luchins Agent usw. Luchin selbst greift in dem Versuch, seine persönlichen Konflikte zu lösen, auf Schachstrategien zurück und versucht, die „Luchin-Verteidigung" zu erfinden, eine Reihe von Zügen, die ihn gegen Angriffe von außen unverletzlich machen würde. Seine Beziehungen im wirklichen Leben zerbrechen, und Luchin erlebt eine Reihe von Halluzinationen, bei denen wichtige Menschen seiner Umgebung zu Figuren auf einem riesigen Schachbrett werden und versuchen, ihn Matt zu setzen. Schließlich erlebt er eine Vision der Verteidigung gegen seine Probleme - und springt aus dem Hotelfenster.
Solche Geschichten über das Schachspiel sind keineswegs unrealistisch. Viele Schachmeister, darunter der erste und der letzte große amerikanische Schachmeister, Paul Morphy und Bobby Fischer, fühlten sich in der wunderbar eindeutigen und logisch geordneten Welt des Schachs so wohl, daß sie den schwierigen Verwicklungen der „echten" Welt den Rücken kehrten.
Die Erregung von Glücksspielern in Situationen, bei denen sie den Zufall „in den Griff bekommen", ist noch berüchtigter. Ethnographen haben beschrieben, wie nordamerikanische Indianer so besessen von einem Glücksspiel mit Büffelknochen waren, daß die Verlierer oft nackt mitten im Winter das Zelt verließen, weil sie sämtliche Waffen, Pferde und Frauen verspielt hatten. Fast jede erfreuliche Aktivität kann süchtig machen, in dem Sinne, daß sie statt eine bewußte Entscheidung darzustellen, zur Notwendigkeit wird, die andere Aktivitäten behindert. Manche Chirurgen etwa beschreiben das Operieren als Sucht, „wie Heroin“.
Wenn man zu abhängig von der Fähigkeit zur Kontrolle und der angenehmen Aktivität wird, kann man nichts anderem mehr Aufmerksamkeit schenken und verliert letztendlich jegliche Kontrolle: die Freiheit, den Inhalt seines eigenen Bewußtseins zu bestimmen. Daher haben angenehme Aktivitäten, die flow auslösen, potentiell auch einen negativen Aspekt: Sie vermögen zwar die Lebensqualität zu verbessern, indem sie Ordnung im Verstand schaffen, doch sie können süchtig machen, und dann wird das Selbst zum Gefangenen einer bestimmten Ordnung und unwillig, sich mit den Zweifelsfällen des Lebens abzufinden.
Der Verlust des Selbstgefühls
Wir haben bereits beschrieben, daß bei einer Aktivität, die absolut fesselnd ist, keine Aufmerksamkeit auf die Zukunft, die Vergangenheit oder auf andere vorübergehend unwichtige Reize verwendet werden kann. Ein Thema, das dabei aus dem Bewußtsein verschwindet, verdient besondere Beachtung, weil wir im normalen Leben so häufig daran denken: das eigene Selbst.
Ein Bergsteiger beschreibt diesen Aspekt der flow-Erfahrung: „Es ist das Zen-Gefühl, wie Meditation oder Konzentration. Eines der Ziele, die man anstrebt, ist die Ausrichtung des Geistes. Man kann sein Ego in den verschiedensten Weisen mit dem Klettern in Verbindung bringen, ohne daß die Sache deswegen unbedingt erleuchtend wird. Aber wenn es automatisch zu ‚laufen' beginnt, wird es gleichsam zu einer egolosen Angelegenheit. Irgendwie tut man das Richtige, ohne darüber nachzudenken oder eine bewußte Anstrengung dazu zu unternehmen... Es geschieht einfach. Und doch ist man dann konzentrierter.“ Mit den Worten eines bekannten Ozeanseglers: „Man vergißt sich selbst, man vergißt alles, sieht nur noch das Spiel des Bootes auf den Wellen und läßt alles andere hinter sich, das für dieses Spiel nicht besonders wichtig ist."
Der Verlust des Gefühls, das Selbst sei getrennt von der Umwelt, wird manchmal von einem Gefühl des Einsseins mit der Umgebung ersetzt, ob es sich dabei um den Berg handelt, eine Mannschaft oder im Falle dieses Mitglieds einer japanischen Motorradgang, den „Run" hunderter von Rädern, die über die Straßen Kyotos donnern: „Ich begreife etwas, wenn alle unsere Gefühle übereinstimmen. Am Anfang befinden wir uns nicht in völliger Harmonie, aber wenn es gut läuft, fühlt sich jeder wie der andere. Wie soll ich das ausdrücken?... Unsere Seelen werden zu einer. Dann macht es wirklich Spaß… wenn alle zu einem werden, dann begreife ich etwas... ganz plötzlich merke ich: ,Oh, wir sind eins'. , und denke: ,Wenn wir so schnell wie möglich fahren, wird das ein echter Run ... Wenn wir merken, daß wir ein Fleisch werden, ist es Spitze. Dann werden wir vom Tempo high. Dann ist es wirklich super."
Dieses „ein Fleisch werden", das der japanische Teenager so lebendig beschreibt, ist ein recht typisches Kennzeichen einer flow-Erfahrung. Manche beschreiben es ganz konkret, wie die Linderung von Hunger oder Schmerz. Es ist eine sehr lohnende Erfahrung, aber eine, die ihre eigenen Gefahren birgt.
Die Beschäftigung mit dem Selbst verbraucht psychische Energie, weil wir uns im Alltagsleben oft bedroht fühlen. Wann immer man sich bedroht fühlt, muß man das Bild, das man von sich selbst hat, ins Bewußtsein rücken, um herauszufinden, ob die Bedrohung ernsthaft ist oder nicht und wie wir ihr begegnen sollen. Wenn man beispielsweise über die Straße geht und merkt, daß manche Leute sich umdrehen und einen angrinsen, ist es normal, sich sofort Sorgen zu machen. „Stimmt etwas nicht? Sehe ich anders aus? Gehe ich komisch, oder ist mein Gesicht verschmiert?" Hundertmal am Tag wird man an die Verletzlichkeit des Selbst erinnert. Und jedes Mal geht psychische Energie bei dem Versuch verloren, wieder Ordnung im Bewußtsein herzustellen.
Beim flow jedoch gibt es keinen Raum für Selbsterforschung. Da erfreuliche Aktivitäten klare Ziele, feste Regeln und Herausforderungen haben, die den Fähigkeiten genau angepaßt sind, gibt es für das Selbst nur wenige Möglichkeiten, sich bedroht zu fühlen. Ein Kletterer bei einem schwierigen Aufstieg ist vollständig von der Bergsteigerrolle ausgefüllt. Er ist hundert Prozent Kletterer, sonst würde er nicht überleben. Es gibt für niemanden und nichts eine Möglichkeit, einen anderen Aspekt seines Selbst ins Spiel zu bringen. Ob sein Gesicht verschmiert ist, würde absolut keine Rolle spielen. Die einzig mögliche Bedrohung stammt vom Berg - aber ein guter Bergsteiger ist angemessen für solche Bedrohung gerüstet und braucht bei diesem Prozeß sein Selbst nicht ins Spiel zu bringen.
Die Abwesenheit des Selbst aus dem Bewußtsein bedeutet nicht, daß jemand in flow die Kontrolle über seine psychische Energie aufgegeben hat oder nicht wahrnimmt, was im Körper oder Verstand passiert. Das Gegenteil ist eher der Fall. Wenn man zuerst flow-Erfahrungen erlebt, nimmt man manchmal an, das Fehlen des Ichgefühls habe mit der passiven Auslöschung des Selbst zu tun, das „im flow schwebt".
Doch optimale Erfahrung bedeutet tatsächlich eine sehr aktive Rolle für das Selbst. Eine Geigerin muß sich jeder Bewegung ihrer Finger bewußt sein wie auch der Töne, die an ihr Ohr dringen; sie muß das Stück als Ganzes im Bewußtsein haben, sowohl analytisch, Note für Note, wie auch die Gesamtstruktur. Ein guter Sprinter ist sich gewöhnlich jedes wichtigen Muskels in seinem Körper gewahr, seines Atemrhythmus und der Leistung seiner Rivalen innerhalb der Strategie des Rennens. Ein Schachspieler könnte keine Freude am Spiel haben, wenn er unfähig wäre, bewußt vergangene Positionen und vergangene Kombinationen aus dem Gedächtnis abzurufen.
Das Selbstgefühl verlieren bedeutet also nicht, das Selbst zu verlieren und ganz gewiß nicht einen Verlust des Bewußtseins, sondern einen Verlust der Bewußtheit von sich selbst. Die Vorstellung vom Selbst taucht unter die Wahrnehmungsschwelle, die Information, die wir benutzen, um uns als das darzustellen, was wir sind. Und vorübergehend zu vergessen, wer man ist, scheint sehr angenehm zu sein. Wenn man nicht mit sich selbst befaßt ist, hat man in der Tat die Möglichkeit, die Vorstellung dessen, was man ist, auszuweiten. Der Verlust des Selbstgefühls kann zur Selbsttranszendenz führen, einem Gefühl, daß die Grenzen des Seins ausgedehnt werden können.
Die Veränderung der Zeit
Eine der häufigsten Beschreibungen optimaler Erfahrung lautet, daß die Zeit dabei nicht so verstreicht wie sonst. Die objektive Dauer, die wir in Beziehung zu äußeren Ereignissen, wie Tag und Nacht, ordentlich nach der Uhr messen, wird durch die von der Aktivität diktierten Rhythmen bedeutungslos. Oft scheinen Stunden in Minuten zu vergehen; allgemein wird angegeben, daß die Zeit viel schneller verstreicht. Gelegentlich tritt auch das Gegenteil auf. Balletttänzer beschreiben, wie eine schwierige Position, die in Wirklichkeit Sekunden dauert, minutenlang erscheint.
„Zwei Dinge geschehen. Das eine ist, daß die Zeit richtig schnell zu vergehen scheint, in gewissem Sinne. Nachdem es vorbei ist, erscheint es so, als sei es sehr schnell vorbeigegangen. Ich stelle fest, daß es ein Uhr früh ist und sage: ,Oh, vor einigen Minuten war es doch erst 8 Uhr'. Aber andererseits, wenn ich tanze… scheint es viel länger, als es wirklich war." Die zuverlässigste Verallgemeinerung, die man bei diesem Phänomen wagen darf, lautet, daß bei einer flow-Erfahrung das Zeitgefühl nur wenig Beziehung zum tatsächlichen Verstreichen der Zeit hat, die mit durch die Uhr auferlegten Konventionen gemessen wird.
Aber auch hier beweisen Ausnahmen die Regel. Ein sehr bekannter Herzchirurg, der tiefe Befriedigung aus seiner Arbeit zieht, ist für seine Fähigkeit bekannt, bei einer Operation immer die genaue Zeit, mit einer Fehlerquote von vielleicht einer halben Minute angeben zu können, ohne jemals auf die Uhr zu schauen. In seinem Fall ist der Zeitfaktor jedoch eine grundsätzliche Herausforderung seiner Aufgabe: Da er nur hinzugezogen wird, um einen sehr kleinen, aber extrem schwierigen Teil des Eingriffs zu vollziehen, ist er gewöhnlich an mehreren Operationen gleichzeitig beteiligt. Er bewegt sich von einem Fall zum nächsten und muß darauf achten, daß er seine Kollegen nicht aufhält, die für die vorangehenden Phasen der Operation verantwortlich sind.
Über eine ähnliche Fähigkeit sollen auch Ausübende anderer Aktivitäten verfügen, bei denen Zeit eine Rolle spielt, etwa Sprinter oder Langstreckenläufer. Um bei einem Wettbewerb eine genaue Strategie zu verfolgen, müssen sie sehr aufmerksam auf das Verstreichen von Sekunden und Minuten achten. Dabei wird die Fähigkeit, die Zeit im Kopf zu behalten, eine der notwendigen Voraussetzungen, um in der Disziplin gut abzuschneiden, und trägt zur Freude an der Erfahrung bei, statt davon abzulenken.
Die meisten flow-Erfahrungen hängen aber nicht von der Uhr ab; wie beim Baseball haben sie ihr eigenes Tempo und eigene Abfolgen, die den Übergang von einer Phase in eine andere festlegen, ohne das Spiel in gleiche Teile aufzuspalten. Es ist nicht ganz klar, ob diese Dimension des flow nur ein Nebenprodukt der intensiven Konzentration ist, die man für die jeweilige Aktivität braucht, oder etwas, das an sich zur positiven Qualität dieser Aktivität beiträgt. Zwar scheint es so, daß die Zeit aus dem Auge zu verlieren kein Hauptaspekt für Freude ist, doch die Freiheit von der Tyrannei der Zeit trägt zu der Erregung bei, die man bei etwas verspürt, mit dem man vollständig eins ist.
Mihaly Csikszentmihalyi wurde 1934 als Sohn einer ungarischen Familie in Italien geboren. Er war Gastprofessor in Italien, Brasilien, Finnland und Kanada. Weltweit bekannt wurde er, als er erstmals das Flow-Phänomen beschrieb, und gilt als führender Glücksforscher. Im Alter von 87 Jahren ist Mihaly Csikszentmihalyi im Oktober 2021 gestorben.
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