Was sehen Sie hier, Caroline Link?

Ein Bild, zwei Fragen: Für Regisseurin Caroline Link ist die junge Frau auf dem Bild in einer Notlage. Was hat die Geschichte mit ihr selbst zu tun?

Die Illustration zeigt eine Frau, die eine geschwungene Treppe hochsteigt und sich dabei am Geländer festhält
Die Treppe ist steil. Die junge Frau wirkt einsam beim Emporsteigen. Ihr schwirren tausend Gedanken durch den Kopf. © Andrea Ventura für Psychologie Heute

Eine junge Frau geht eine Treppe hinauf. Sie sieht nicht gerade fröhlich aus. Ihre Schultern sind hochgezogen, ihre Haltung ist gebückt. Wo kommt sie her? Wo will sie hin? Eine befreundete Schauspielerin hat mir einmal erklärt, dass es ganz wichtig ist, sich als Figur in einem Film oder Theaterstück diese Fragen zu stellen. Man betritt nicht einfach die Szenerie. Es macht einen sichtbaren Unterschied, genauestens zu wissen, was die Gefühlslage der Figur ist, die man darstellt.

Vielleicht kommt diese junge Frau gerade vom Arzt. Sie hat erfahren, dass sie schwanger ist. Wem wird sie es zuerst erzählen? Ihrer Mutter? Sicher nicht dem Vater des Kindes. Er ist ein junger Jurist, der gar nicht gefragt hat, ob sie überhaupt verhütet. Sie wollte nicht spießig sein, der junge Mann hat so gut gerochen, und sie wollte endlich auch mal erzählen können, dass es mit einem Tinder-Date geklappt hat. Mist. Oben in der gediegenen Altbauwohnung war­tet ihre Mutter mit einem guten Essen. Einmal in der Woche kommt sie nach der Uni zu ihr. „Mama wird mich verstehen. Sie wird mir nicht den Kopf abreißen. Hat sie nicht neulich erst erzählt, dass in ihrer Jugend jede zweite Frau mal einen Schwangerschaftsabbruch hatte? Davon geht die Welt nicht unter.“

Im dritten Stock bleibt das Mädchen stehen. Hinter einer Wohnungstür klim­pert ein Kind auf dem Klavier. Alles ist friedlich. Im vierten Stock öffnet sich die Tür. „Clara?“ Ihre Mutter schaut freundlich über das Geländer. „Beeil dich. Papa ist auch da!“ Das Mädchen seufzt. Das auch noch.

Was könnte Ihre Bildbeschreibung mit Ihnen persönlich zu tun haben?

Junge Menschen beschäftigen mich. Kinder sowieso, aber auch junge Erwachsene, die heute, wie ich finde, in keiner besonders einfachen Zeit groß werden. Das Mädchen auf dem Bild ist so blass, die Treppe so steil. Ich denke mir, dass ich Glück hatte, relativ sorgenfrei in der Provinz groß zu werden. Ich bin ein Boomer, in meiner Jugend war jedes Schullandheim, jede Ferienreise, jeder Schwimmkurs überbucht. Das Mädchen sieht so einsam aus. Hoffentlich hat sie genügend Menschen um sich, die sie lieben.

Caroline Link ist vielfach ­prämierte Regisseurin. Ihr Film ­Nirgendwo in Afrika gewann 2003 den Oscar. Ihre erste Fernseharbeit, die Serie Safe über Psychotherapie bei Kindern, ­wurde 2023 unter anderem mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet.

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