Lektionen des Lebens

ANGST: Krisen lassen sich nicht verhindern. Aber wir können dafür sorgen, dass sie uns nicht zu sehr beuteln. Und in manchen steckt eine Aufgabe.

Die Illustration zeigt eine Frau auf einem Seil balanzierend umringt von schwarzen Vögeln und dahinter ziehen dunkle Wolken auf
In der Krise reicht es nicht, sich noch mehr anzustrengen. Wir brauchen neue Sichtweisen und Strategien. © Marco Wagner

Auf einmal kommt der Boden unter uns ins Rutschen. Was wir sicher glaubten, beginnt sich aufzulösen. Was wir im Griff hatten, entzieht sich uns. Fieberhaft suchen wir nach Auswegen, nach Lösungen, nach Halt. Verzweifelt bemühen wir uns, nur ja nicht aufzugeben. Aber so sehr wir uns anstrengen – der Abgrund nähert sich unaufhaltsam. Was hat all das ausgelöst? Die Entlassung, weil die Firma Kosten einsparen muss, die Trennung des Partners, die Diagnose des Arztes? War es die Kündigung der Kredite durch die Bank, das Scheitern in der Examensprüfung, die soundsovielte Absage auf eine Bewerbung, der Kontaktabbruch durch den Sohn oder ein körperlicher Zusammenbruch am Arbeitsplatz? Was immer es war: Wir wissen nicht, wie es jetzt weitergehen kann, werden von Angst überspült, sind verzweifelt und fühlen uns der Situation ausgeliefert. Alles in uns ist in Aufruhr, wir finden keinen Schlaf, die Gedanken kreisen unablässig, der Körper rebelliert.

Wir sind in einer Krise. Per Definition ist das der Höhepunkt einer negativen Entwicklung, für deren Lösung uns die Mittel fehlen. Weil wir die Kompetenz, die wir jetzt bräuchten, noch nicht erarbeitet haben oder sie uns unter dem großen emotionalen Druck verlorengegangen ist. Welche Dramatik darin steckt, ist in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs crisis geborgen. Im Altgriechischen bezeichnete er den Wendepunkt zur Heilung oder zum Tod. In der Medizin wird der Terminus immer noch so verwendet: Die Krise ist der entscheidende Moment im Verlauf einer Krankheit oder Verletzung, in dem entweder die Genesung beginnt oder sich der Zustand des Patienten radikal verschlechtert. Psychische Krisen sind, wie der amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson schrieb, ganz normal, nämlich „unabdingbarer Bestandteil jeder gesunden menschlichen Entwicklung, sie treten periodisch immer bei einem Übergang von einem Lebensabschnitt zum anderen auf. Sie sind Nahtstellen und Wendepunkte am Beginn einer neuen Lebensphase.“

So unangenehm der Gedanke daran sein mag – Ereignisse, die uns in Krisen stürzen könnten, kommen in jedem Leben vor. Man kann ihnen nicht ganz aus dem Weg gehen. Vorbeugen bis zu einem gewissen Grad ist aber möglich. Es hilft zu wissen, woran man die Vorboten einer negativen oder riskanten Entwicklung erkennen kann und wie sich dann verhindern lässt, dass aus einer Krise ein Drama wird, das zu tiefe Spuren hinterlässt. Anlässe für Krisen gibt es genug. In einer immer komplexeren Welt fordern uns zahlreiche Veränderungen heraus, und das auf sehr unterschiedlichen Ebenen:

  • Körperlich-biologisch: Wir werden älter, erkranken, erleben Einschnitte wie die Pubertät und die Menopause, der Verlust an Energie oder der körperlichen Leistungsfähigkeit mit fortschreitendem Alter macht vielen zu schaffen.

  • Auf der Beziehungsebene: Wir kommen zusammen, trennen uns wieder, finden einen neuen Part­ner, heiraten, bekommen Kinder, die Kinder gehen aus dem Haus, wir werden Großeltern.

  • Beruflich: Wir gehen zur Schule, machen eine Ausbildung und Karriere (oder eben nicht), wechseln die Arbeitsstelle, vielleicht den Beruf, gehen in Rente.

  • Technologisch: Vor allem im Beruf erleben wir technologische Veränderungen, mit allen Konsequenzen für jeden Einzelnen wie etwa ständig wechselnden und komplexeren Anforderungen.

  • Gesellschaftlich: Politische und ökonomische Umwälzungen können, wie wir es gerade erleben, das gesellschaftliche Klima massiv verändern – und nicht zuletzt durch neue Gesetze auch auf unser privates Leben durchschlagen.

Die Angst ist der treue Begleiter jeder Krise

Wie immer sich Krisen abspielen, sie haben etwas gemeinsam. In allen fordenden Situationen gibt es etwas, das uns stabilisiert, etwa das Vorhandensein des Arbeitsplatzes, das Dasein des Partners, der Freunde, Gefühle von Zuversicht oder Sicherheit – und davon gehe in einer Krise etwas verloren, schreiben die britischen Psychologen Gillian Butler, Nick Grey und Tony Hope in ihrem Buch Manage Your Mind. Unter dem Radar der größeren Verluste – wie dem eines Arbeitsplatzes – gibt es immaterielle, emotionale Verluste, die Krisensymptome nach sich ziehen können. Nach einer heftigen Kränkung kann Vertrauen verlorengehen. Hoffnungen werden enttäuscht und schwinden und mit ihnen auch die angenehme Aussicht, wie es sein könnte, wenn sie sich erfüllten. Nach dem Kontaktabbruch des erwachsenen Sohns macht sich innere Leere breit. Nach einem Umzug in eine andere Stadt kann sich das Gefühl entwickeln, man habe seine Wurzeln gekappt. Freunde verlieren das Interesse an uns und schwinden aus unserem Leben. Nach dem Auszug des Partners fehlt uns das Gefühl von Sicherheit, dass er da war.

Anzeichen für den drohenden Verlust gibt es oft schon längere Zeit vor einer Krise. Jeder, der auf dem Höhepunkt eines Burnouts zusammenbricht, hatte lange vorher Schlafstörungen, war chronisch erschöpft, gereizt, lustlos und fühlte sich innerlich leer. Der Trennung eines Paares geht fast immer eine Zeit der Entfremdung, Sprachlosigkeit, des Nörgelns, der sexuellen Unlust voraus. Eine Insolvenz kündigt sich auf den Konten an. Manchmal haben sogar Menschen in unserem Umfeld mehr oder weniger deutliche Warnungen ausgesprochen. Der Freund hat sich schon sehr lange nicht mehr gemeldet und nicht mehr zurückgerufen. Aber wie stark die Warnsignale auch waren – manchmal hören wir sie nicht, reagieren nicht, halten an einer unrealistischen Hoffnung fest. Andere werden aktionistisch und hektisch, tun immer mehr desselben. Warum ist es so schwer, richtig zu reagieren?

Die erste Reaktion: Verleugnung

„Weil uns die Warnsignale ungelegen kommen“, sagt Winfried Berner, Psychologe, Unternehmensberater und Experte für Krisenprävention. „Wenn wir sie wahr- und ernst nehmen würden, könnten wir ja nicht so weitermachen wie bisher. Wir müssten einiges grundlegend ändern. Und das würde unsere momentanen Pläne und Ziele in Gefahr bringen.“ Uns dämmert zwar, dass wir uns entwickeln und neuen Notwendigkeiten stellen sollten. Aber das versuchen wir möglichst lange zu vermeiden.

Indem wir die Warnsignale mithilfe der vertrauten Alltagsrituale verdrängen, vermeiden wir ein sehr unangenehmes Gefühl: die Angst vor dem Verlust. „Die erste Reaktion auf ein Frühwarnsignal ist eigentlich immer Verleugnung“, hat Winfried Berner beobachtet. „Statt die Angst wahrzunehmen und sich ihr zu stellen, schließen wir fest unsere Augen, um die Warnsignale nicht sehen zu müssen.“ Die Angst hat sich aber schon in unser Unbewusstes eingeschlichen und Symptome ausgelöst, die uns die Krise ankündigen: Aufregung und Nervosität, Unsicherheit, Verwirrung, Aggressivität, vielleicht Depressionen. Auch der Körper meldet sich mit Herzklopfen oder Kopf- und Magenschmerzen. Aber aufgrund der Angst wird das Blickfeld zugleich immer enger, fokussieren wir immer stärker auf das drängende Problem, so dass wir alles andere ausblenden und schließlich in einer Art Problemtrance gefangen sind, die sich aus sich selbst speist. Die Angst ist der treue Begleiter jeder Krise. Wir fühlen uns von der Veränderung, die wir angehen müssten, bedroht. Unsere Identität, unser Selbstwert, unsere Selbstwirksamkeit und unsere Überzeugungen werden infrage gestellt.

Zugleich überschätzen wir unsere Möglichkeiten, sagt Winfried Berner: „Viele Menschen hantieren mit Kontrollillusionen. Sie haben die Annahme, deutlich mehr unter Kontrolle zu haben, als es tatsächlich der Fall ist. Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman, sein langjähriger Kollege Amos Tversky und andere haben nachgewiesen, dass wir unseren Informationsstand, unsere Kompetenz und den eigenen Einfluss auf Entwicklungen viel höher einschätzen, als sie tatsächlich sind.“ Wir geben uns der Hoffnung hin, dass wir die drängenden Probleme schon noch in den Griff bekommen könnten, wenn wir uns nur noch ein wenig mehr anstrengen.

Aber all diese Veränderungen stellen uns vor neue Aufgaben, für die vorhandene Strategien oft nicht ausreichen. Anstatt uns nur noch mehr ins Zeug zu legen, müssten wir Abschied nehmen vom Vertrauten, müssten uns einlassen, neue Strategien entwickeln, neue Kompetenzen erarbeiten, Entscheidungen treffen. Damit tun wir uns so schwer, weil wir im Moment der heraufziehenden Krise kein Verständnis für einen positiven Ausblick haben. Jetzt steht allein der drohende Verlust im Mittelpunkt. „Der Übergang wird zur Krise, wenn ich Angst habe vor dem Neuen und dann auch noch bockig werde, weil ich einfach nicht will, dass sich etwas verändert“, sagt die Psychoanalytikerin Verena Kast, Autorin des Klassikers Lebenskrisen werden Lebenschancen.

Eingeengt und labil zugleich

Es sei eine besondere Situation, die wir jetzt erleben, sagt Verena Kast: „Auf dem Höhepunkt der Krise bin ich eingeengt und zugleich sehr labil. Die Einengung bewirkt, dass ich etwas tun muss. Die Labilität bewirkt, dass ich offener bin für die verschiedenen Aspekte meiner Psyche. Weil ich gar nicht anders kann, werde ich mich jetzt auf etwas Neues einstellen und bin motiviert, das zu tun. Das ist das Gute an der Krise: Ich bin an einen Punkt gekommen, wo ich wirklich empfinde, dass es so nicht weitergehen kann.“ Hierin liege die Chance, betont Kast: „Krisen haben eine schöpferische Kraft, denn Kreativität ist immer da, wo wir keine Lösung haben. Wir sind durchlässiger für Impulse des Unbewussten.“

Manchmal brauchen wir eine Krisenintervention. Je gravierender die Krise für uns ist, desto besser ist es, jemanden zu haben, der uns emotional stabilisiert, der Abstand hat und sich nicht hineinziehen lässt in die Dramatik der Situation. Der die Fakten sortieren hilft. Die Ausgangssituation für die Bewältigung von Krisen sei bei vielen Menschen ja eigentlich gut, sagt Verena Kast: „Wir bringen schon sehr viele Kompetenzen mit, die wir uns im Laufe unseres Lebens erworben haben, auch für den Umgang mit schwierigen Lebenssituationen. Wir brauchen nur dringend einen Menschen, der sie uns wieder ins Gedächtnis zurückholt und die notwendige Wertschätzung einbringt.“ Der uns erst einmal hilft, die richtigen Fragen zu stellen, um ein klareres Bild der Situation zu bekommen.

Der Partner zieht aus – reicht das Geld für die Miete, und wer bringt jetzt die Kinder in die Kita? Meine Mutter wird dement – wer kann sich außer mir um sie kümmern? Ich stehe vor der Insolvenz – wie vermeide ich noch höhere Schulden und sichere Lebensunterhalt und Wohnung? Kann ich den Freund zurückgewinnen, der sich abgewandt hat, oder ist es besser, die Situation zu akzeptieren und neue Kontakte zu suchen?

Genau hinschauen beruhigt

Jede Krise hat ihre spezifischen Aspekte, und je genauer wir sie anschauen, je ehrlicher unsere Bestandsaufnahme ist, desto besser sind unsere Chancen, dass wir wieder in einen Alltag zurückkehren. Denn das bewirkt zweierlei: Wir erarbeiten Maßnahmen, um wieder entscheiden zu können und handlungsfähig zu bleiben – wir entängstigen und beruhigen uns. Das ist der entscheidende Schritt zur Bewältigung der Krise. Ob sie zur Chance wird oder zur Falle, hängt vom Umgang mit Angst und Unsicherheit ab, und dieser wiederum unmittelbar von unserem Selbstwertgefühl. In der Krise ist es beschädigt, weil wir uns als hilflos und unfähig erleben. Aber darunter liegt das sogenannte habituelle Selbstwertgefühl. Dieses ganz normale Verhalten, Teil unserer Persönlichkeit, liefert die Erinnerung daran, wie wir in guten Zeiten tatkräftig, widerstandsfähig und lösungsorientiert unsere Probleme bewältigt haben.

Der Grat zwischen Rettung und Absturz in ein prekäres Leben kann schmal sein. Die Erfahrung aus der einen Krise prägt das Verhalten in der nächsten, zum Positiven wie zum Negativen. Wer eine Geschäftskrise gut gemeistert hat, kann bei der nächsten früher und kompetenter umsteuern. Aber auch dysfunktionale oder gar selbstschädigende Versuche, eine drängende Situation zu bewältigen, werden oft wiederholt. So ist etwa die Wiederholungsgefahr bei einem Suizidversuch um ein Vielfaches erhöht. Und ja, wir können an Krisen auch zerbrechen. Davon künden zum Beispiel Interviews mit Menschen, die in die Obdachlosigkeit abgeglitten sind.

Krisen lassen sich nicht verhindern, aber in ihrer zerstörerischen Dramatik sehr wohl lindern: wenn wir unsere Wahrnehmung für Übergänge und unvermeidliche Entwicklungen schärfen, Warnhinweisen Aufmerksamkeit schenken und bereit sind, unser Handeln tatsächlich neu auszurichten – oder auch einmal abzuwarten. Das kann ebenfalls sinnvoll sein –  bis wir wieder genug Klarheit haben, um zu wissen, was zu tun ist.

Pfleglicher Umgang mit sich selbst

Wie immer die Krise individuell verläuft – wir kommen besser damit zurecht, wenn wir uns gut um uns kümmern, anstatt uns – vielleicht aus Angst, etwas zu verpassen – nun auch noch zu vernachlässigen. Dabei komme es auf Bewusstheit an, sagt Verena Kast. „Eine wichtige Frage ist: Wie viel Kontakt habe ich zu mir selbst? Merke ich überhaupt, dass ich in eine labile Phase hineinkomme? Dass ich etwas mehr Angst habe als früher, mir mehr Sorgen mache? Nehme ich das als lästig – oder halte ich inne und bemerke: Irgendetwas will neu werden? Dafür braucht man Zeit! In so einer Situation darf man etwas pfleglicher mit sich umgehen. Wir haben die Tendenz, zu denken: So etwas sollte gar nicht sein; wir sollten immer fit und gut beieinander sein. Aber so ist es eben nicht. Und dafür bekomme ich ein Gefühl, wenn ich mit mir im Kontakt bin.“

Wichtig ist auch, zu erkennen, welche Aufgabe in einer krisenhaften Zuspitzung steckt. Vielleicht sollten wir, um den nächsten Übergang geschmeidiger zu gestalten, Abschied nehmen von alten Gewohnheiten oder Haushalten lernen mit der eigenen Kraft; bescheidener werden im Umgang mit Geld; mehr Hinwendung zum Partner zeigen; die eigenen Anteile am Streit erkennen; Verantwortung für die eigenen Schwächen übernehmen; Anteilen der Persönlichkeit Raum geben, den sie bisher nicht hatten.

Die Emotion der Veränderung

Und die Krise aus heiterem Himmel – der Schicksalsschlag? Die Krebsdiagnose, der Terroranschlag, der plötzliche Tod eines geliebten Menschen? Darauf kann man sich nicht vorbereiten. „Die unbarmherzige Abwesenheit eines Menschen, den wir geliebt haben, kann man nicht vorwegnehmen“, sagt Verena Kast. „Aber es stellen sich dieselben Aufgaben wie bei Veränderungskrisen, allerdings unter dramatischen Umständen.“

Die Österreicherin Barbara Pachl-Eberhart hat das erlebt: Das Auto, in dem ihr Mann und ihre zwei Kinder saßen, wurde auf einem unbeschrankten Bahnübergang von einem Zug erfasst. Alle drei kamen ums Leben. Wie sie dieses unvorstellbar schreckliche Erlebnis verarbeitete, hat sie in einem berührenden Buch beschrieben: Vier minus drei. Wie ich nach dem Verlust meiner Familie zu einem neuen Leben fand. Sie erzählt von ihrem Trauerprozess, wie sie dem Schmerz allen Raum gab, den er brauchte, wie sie sich Hilfe suchte und fast verblüfft feststellte: „Die Welt bleibt nicht stehen in einem solchen Moment. Die Geschichte geht weiter. Ich bin nicht tot umgefallen, die Sonne schien immer noch warm, die Menschen gingen rechts und links an mir vorüber, als wäre nichts geschehen.“

In einem Interview reflektierte sie die entscheidende Rolle der Trauer, die das Ende der Krise ankündigt, weil wir nun wirklich Abschied nehmen von dem, was wir nicht loslassen wollten: „Trauer ist die Emotion der Veränderung. Irgendwann findet man eine neue Ordnung, dann ist für mich der klassische Prozess der Trauer abgeschlossen. Das ist der Moment, in dem ich wieder Boden unter den Füßen habe und aus freien Stücken ja zu meinem Leben sagen kann.“

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2019: Werden, wer ich bin
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