„Viele Familien sind egoistisch.“

Manche Familien bilden ein Netzwerk aus Abhängigkeiten und wollen keine Störenfriede haben. Warum sind sie so?

Die Illustration zeigt den Psychologen und Psychoanalytiker, Jakob Müller, den stört, dass viele Familien egoistisch sind
Jakob Müller ist Psychologe und Psychoanalytiker. Ihn stört, dass viele Familien egoistisch sind. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Als ein Symptom unserer Zeit wird nicht selten ein grassierender Egoismus beschrieben. Vom Vordrängeln in der Warteschlange, Fahrverhalten im Straßenverkehr bis hin zum Umgang mit der Natur: Immer geht es darum, dass einzelne Menschen ihre Interessen kompromisslos über die Bedürfnisse von anderen stellen oder diese gar nicht erst wahrnehmen. Dergleichen wird auch unter der Diagnose eines „Zeitalters des Narzissmus“ verhandelt.

Bei genauerer Betrachtung verbindet sich der Egoismus Einzelner aber oft mit einem Familienegoismus, handeln Menschen nach der Devise: My family first. Nicht wenige Familien bilden eine Art Clan, für den eigene Gesetze gelten. Dies gilt nicht nur für mafiös organisierte Großfamilien im kriminellen Milieu. Entscheidendes Charakteristikum einer Clanfamilie ist: Es gibt eine eigene, ungeschriebene Moral, meist nach der Formel: „Gut ist, was meiner Familie dient.“

Inneres Netzwerk aus Abhängigkeiten

Diese Moral setzt gesellschaftliche Werte außer Kraft, was sich bei der Kindererziehung zeigt: Erwachsene tolerieren durchaus, wenn ein Kind zuhaut oder dem anderen auf dem Spielplatz etwas wegnimmt: nämlich wenn es das eigene Kind ist (oftmals rationalisiert mit: „Dann lernt es, sich durchzusetzen“). Eltern in der egoistischen Familie greifen nur ein, wenn etwa ein anderes Kind dem eigenen etwas wegnimmt.

Damit werden die Erwachsenen nicht mehr zu Vertreterinnen und Vertretern einer allgemeingültigen Moral („Man darf nichts wegnehmen“), sondern einer Familienmoral („Niemand darf meiner Familie etwas wegnehmen“).

Nach innen sind solche Systeme oft durch ein Netzwerk von Abhängigkeiten gekennzeichnet, die Fremdes abwehren und ausschließen. Personen, die „einheiraten“, gelten als Störenfriede oder Gefahr für den Zusammenhalt. Um so mehr wenn sie nicht ins Familienbild passen oder die unausgesprochenen Regeln hinterfragen.

Familie und Gesellschaft als entgegengesetzte Kräfte

Gesellschaft und Familie stehen seit Jahrtausenden in einem Spannungsverhältnis. Ohne Zweifel liegt es in der Natur des Menschen, die eigene Gruppe zu bevorzugen, sich im vertrauten Kreis wohlzufühlen, gewissermaßen die eigene Höhle komfortabel auszubauen. Aber auch die Neugier, die Lust auf das Fremde jenseits davon liegen „im menschlichen Blut“.

Eine zivilisierte Gesellschaft beruht darauf, dass einander fremde Menschen verträglich miteinander leben können. Familienclans entstammen einer Zeit, in der es keinen Garanten für Sicherheit jenseits der Familie gab, keinen Staat, der das gleiche Recht für alle Menschen durchsetzen kann. Gerade Familien, in deren Geschichte sich massive Traumatisierungen wie Vertreibung oder Flucht ereignet haben, neigen zur Clanbildung. Hier hat sich die oft unbewusste Erfahrung eingebrannt: Nur „das eigene Blut“ bietet Schutz, jenseits der Familie droht Gefahr.

Doch wir können nur etwas ändern, wenn jeder Mensch seine Verantwortung für das Ganze wahrnimmt. Spätestens der Klimawandel zeigt: Wir leben alle in einer gemeinsamen Höhle. Es kann nicht jeder nach Belieben Feuer machen, ohne dass die Luft für alle schlecht wird.

Jakob Müller ist Psychologe und Psychoanalytiker in Heidelberg und betreibt den Podcast „Rätsel des Unbewußten“.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2022: Lieber unperfekt
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