Fünf Wege das Wundern wiederzuentdecken

Psychologie nach Zahlen: Wollen Sie die Welt wieder mit Staunen erkunden? Fünf Strategien, um in sich den sense of wonder zu wecken

Ein Mann liegt auf dem Bauch auf einer Wiese, den Kopf auf die Hände gestützt und schaut nach oben auf den Marienkäfer, der auf seinem Kopf sitzt
„Ohh wie toll, ein kleiner Käfer!“ Auch wenn man etwas schon oft gesehen hat, kann man es staunend bewundern. © Till Hafenbrak für Psychologie Heute

Das englische Wort wonder ist – ebenso wie sein deutsches Pendant – ein schillernder Begriff mit vielen Bedeutungen. Auf der einen Seite ist da das Wunder, etwa ein erhabenes Naturschauspiel, vor dem man in ehrfurchtsvollem Staunen erstarrt (siehe auch Intensiver leben, Heft 12/2023).

Diese zwar mächtige, aber eher passive Erfahrung, von etwas Großem überwältigt zu werden, hat Frank Keil, Professor für Psychologie und Linguistik an der Universität Yale, bei seiner Forschung nicht im Sinn. Er interessiert sich für Wundern als einen aktiven Erkenntnisvorgang: Man stößt auf ein äußerst interessantes Phänomen, ist wie elektrisiert – und sucht nach einer Erklärung, einem Wie und Warum. Dieser Suchimpuls des Denkens scheint in uns Menschen tief verankert. Schon Säuglinge reagieren mit Erstaunen, wenn Objekte sich nicht so wie erwartet verhalten, etwa wenn ein Ball eine solide Wand zu durchdringen scheint.

Science-Fiction, das Muttergenre des sense of wonder, liefert solche unerklärlichen Phänomene frei Haus und nimmt das Lesepublikum mit auf eine abenteuerliche Suche nach Erklärungen (siehe „Science-Fiction öffnet eine Tür im Kopf“, Heft 6/2022). Manche Menschen – „glückliche Wunderer“, wie Keil sie nennt – bewahren sich die kindliche Fähigkeit, sich von den Rätseln der Welt erstaunen zu lassen. Für diejenigen, denen diese Gabe irgendwann abhandengekommen ist, empfiehlt Frank Keil eine Reihe von Strategien, um sie wiederzubeleben.

1 Introspektion

Machen Sie es sich zur Gewohnheit, beispielsweise am Monatsende kurz innezuhalten und sich die Frage zu stellen: Habe ich in den vergangenen Wochen etwas Neues gelernt, das mein Verständnis der Welt ein wenig verändert hat? Das könnte ein Hinzugewinn an Wissen sein oder die Einsicht, dass Sie vorher falsch lagen und Ihr Bild zurechtgerückt haben.

Fragen Sie sich nun, auf welche Weise diese Erkenntnis – wie unbedeutsam auch immer – Ihr Weltverständnis verändert hat und welche neuen Entdeckungspfade sich dadurch eröffnen könnten. Oder halten Sie Ausschau nach einem Rätsel vor Ihrer Haustür, dem Sie nachgehen könnten: Warum blühen manche Rosen mehrmals im Jahr – was unterscheidet sie von anderen Rosen? Nach ein paar Monaten, so Keils Erfahrung, müssen Sie sich gar nicht mehr zu einer solchen Selbstbefragung überreden – Sie tun es automatisch, weil lernbegieriges Wundern einfach befriedigend ist.

2 Erkenntnispfade

Erkunden Sie neue Wege, um nach Wissen zu suchen. Statt reflexhaft die Suchmaschine (oder die KI) zu befragen, könnten Sie sich etwa das Video einer Expertin auf YouTube anschauen, ein Museum, eine Bibliothek, eine Vorlesung aufsuchen oder ein Erklärbuch aus der Reihe „für Dummies“ konsultieren. Scheuen Sie sich nicht, vermeintlich dumme Fragen zu stellen, denn das sind oft die gescheitesten. Bei den meisten Fachleuten, so Keils Erfahrung, stößt man damit auf offene Ohren, denn die seien so fasziniert von ihrem Wissensgebiet, dass sie es nur allzu gerne erklären. „Sogar manche Ärztinnen und Ärzte sind – trotz übervollem Terminkalender – froh über Ratsuchende, die mit ihnen intellektuell verstehen wollen, was da vor sich geht.“

3 Kontraste

Oft reizt es unsere Neugier und ist ein Lernanstoß, wenn etwas nicht ins vertraute Bild passt. Wir sehen einen Baum, der vorzeitig seine Blätter verliert – und versuchen herauszufinden, was der Grund sein mag, woran es diesem Organismus wohl mangelt. Ebenso ist es lohnend, neben solchen Anomalien auch generell Gegensätzliches, also voneinander Abweichendes, ins Visier zu nehmen: Was genau ist anders an Insekten, was unterscheidet diese Wesen von uns Wirbeltieren? Oder, alltagsnäher: Welche Unterschiede gibt es zwischen introvertierten und extravertierten Menschen in meinem Bekanntenkreis; was verraten diese Unterschiede über die Art, wie sie die Welt erleben und auf sie zugehen?

Bisweilen tun sich Kontraste auf, wo auf den ersten Blick große Ähnlichkeit zu herrschen schien. So gilt die Venus als eine Art Zwillingsplanet der Erde: fast exakt die gleiche Größe, umhüllt von einer dichten Atmosphäre, nur unwesentlich näher an der Sonne. Umso überraschter war die Forschung, als sich dieser Schwesterplanet mehr und mehr als eine gänzlich unirdische giftige Gluthölle herausstellte, mit einer mittleren Oberflächentemperatur von 464 Grad. Gerade diese verblüffenden Unterschiede zwischen den Planetengeschwistern geben uns wertvolles Anschauungsmaterial zur Dynamik eines sich aufschaukelnden Treibhauseffekts – was uns zu einer weiteren Strategie des Wunderns führt: Was wäre, wenn…?

4 Gegenwelten

Venus und Erde waren einander zunächst ähnlich, nahmen dann aber eine immer stärker divergierende Entwicklung. Das wirft eine faszinierende Frage auf: Was wäre wohl aus der Erde – oder der Venus – geworden, wenn ihre Ausgangsbedingungen zu Beginn ihrer Planetenentwicklung nur leicht anders gewesen wären?

Was-wäre-wenn-Fragen dieser Sorte sind Ausgangspunkte für faszinierende Gedankenspiele, im Fachjargon „kontrafaktisches Denken“ genannt. Wir können uns im Geist fiktive Alternativwelten ausmalen, plausible Gegenmodelle zu unserer Ist-Realität: So oder so hätte es kommen können, wenn einst das Leben oder die Geschichte eine winzig andere Abzweigung genommen hätte. Was wäre geschehen, wenn meine Mutter bei dieser Feier nicht auf meinen Vater getroffen wäre? Wie hätten die Dinge ihren Lauf genommen, wenn Hitler an der Wiener Kunstakademie als Student angenommen worden wäre, statt sich im Männerwohnheim zu radikalisieren? Oder wenn gefrorenes Wasser schrumpfen würde, statt sich auszudehnen? Es ist engstirnig zu glauben, wir lebten in der einzig möglichen aller Welten.

5 Erkenntnisduette

„Viele Erwachsene“, schreibt Keil, „betrachten Auseinandersetzungen als aversive Schlachten mit dem Ziel, mit der eigenen Anschauung die Gegenseite zu bezwingen.“ Was für eine verschenkte Gelegenheit! Denn gerade Debatten sind eine fantastische Basis für einen gemeinsamen Erkenntniszuwachs – sofern man die Haltung ändert, in der man sie bestreitet, und Rechthaberei durch das Bestreben ersetzt, im kontroversen Dialog gemeinsam der Wahrheit näherzukommen. Dazu bedarf es eines echten Interesses an dem anderen Standpunkt und vieler Nachfragen, die auf Verstehen statt von vornherein auf Widerlegen zielen. Frank Keil schlägt deshalb vor: „Wenn Sie das nächste Mal feststellen, dass Sie mit einer Freundin oder einem Freund unterschiedlicher Meinung sind, dann versuchen Sie, diese Meinungsverschiedenheit als eine Gelegenheit zu ergreifen, um zu lernen.“ Am besten ohne Publikum, das es zu beeindrucken gilt.

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