Das private Interesse an psychologischen Selbsttests wächst. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Menschen haben ein starkes Bedürfnis, etwas über sich selbst zu erfahren und sich mit anderen zu vergleichen. Wir fragen uns: Warum habe ich diese Gefühle? Weshalb bin ich so gestresst? Gerade junge Menschen interessieren sich für ihre Persönlichkeitseigenschaften und wollen wissen, in welche Richtung sie sich entwickeln können. Da wir soziale Wesen sind, interessiert es uns, wie wir von anderen wahrgenommen werden oder weshalb wir mit anderen Menschen in Konflikt geraten. Psychologische Selbsttests können uns darauf Antworten geben und eine andere Perspektive auf uns selbst ermöglichen. Natürlich ist ein Test nicht in der Lage, alle Fragen umfänglich zu beantworten, aber er kann uns Hinweise geben und uns helfen, mehr über uns zu erfahren – vorausgesetzt er ist nach wissenschaftlichen Kriterien aufgebaut und empirisch überprüft.
Wo liegen die Wurzeln für diese Art, psychologische Eigenschaften zu untersuchen?
Der Pariser Psychologe Alfred Binet gilt als Begründer der Psychometrie, er entwickelte 1905 den ersten IQ-Test, um die kognitive Entwicklung von Kindern zu untersuchen. Frankreich führte damals die allgemeine Schulpflicht ein und bald zeichnete sich ab, dass nicht alle Kinder gleichermaßen lernfähig sind. Binet konzipierte einen Einstufungstest, der es ermöglicht, die geistige Entwicklung von Kindern im Alter von drei bis 15 Jahren zu objektivieren.
Und seit wann genau gibt es Persönlichkeitstests?
Der MMPI-Test – das Minnesota Multiphasic Personality Inventory – legte in den 1940er Jahren die Grundlage für psychologische Tests, wie wir sie heute kennen. Ein US-amerikanischer Neurologe und ein Psychologe entwickelten das Instrument, um festzustellen, unter welcher psychischen Störung jemand leidet. Der MMPI-Fragebogen dient auch dazu, die Persönlichkeitsstruktur zu bestimmen. Er umfasst mehr als 500 Items, die von der getesteten Person mit „Trifft zu“ oder „Trifft nicht zu“ beantwortet werden sollen. Aus heutiger Sicht genügt er wissenschaftlichen Anforderungen nicht mehr. Zudem sind die Fragen teilweise sehr persönlich und eignen sich nicht für den Einsatz im Personalwesen. Der von mir entwickelte und auf Psychologie Heute angebotene Big-Five-Persönlichkeitstest ist da eine bessere Alternative. Er war der erste im Open Test Archive veröffentlichte Big-Five Test, wurde mittlerweile in mehrere Sprachen übersetzt und kann für Forschungs- und Unterrichtszwecke kostenlos verwendet werden.
Wie gehen Sie bei der Entwicklung eines Tests vor?
Am Anfang stehen eine umfangreiche Literaturrecherche und die Auswertung von Studien. Im zweiten Schritt entwickle ich einen Fragen- und Aufgabenpool, der die relevanten Eigenschaften erfassen soll, so zählt z.B. die Zustimmung zur Aussage „Ich fühle mich oft unsicher“ zur Persönlichkeitseigenschaft Neurotizismus aus dem Big-Five-Persönlichkeitstest. Im zweiten Schritt validere ich die Fragen und Aufgaben mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Dabei kommen statistische Verfahren wie die Faktorenanalyse zum Einsatz, um die besten Fragen und Aufgaben zu identifizieren und auszuwählen. Im letzten Schritt wird der Test anhand einer großen, repräsentativen Stichprobe normiert.
Was ist mit Normierung gemeint und warum ist sie wichtig?
Ein psychometrischer Test wird normiert, damit sich ein Ergebnis in Hinblick auf eine Vergleichsgruppe interpretieren lässt. Ein IQ-Test wird beispielsweise so normiert, dass eine durchschnittlich intelligente Person immer einen IQ-Wert von 100 erzielt und die meisten Menschen einen Wert zwischen 85 und 115. Die Normierung gibt Auskunft darüber, wo wir im Vergleich zu anderen Menschen stehen. Aufgrund dieser Anforderungen hat ein psychometrischer Test eine ganz andere Aussagekraft als ein Test in einer Zeitschrift, den vielleicht der Redaktionspraktikant geschrieben hat. Der bietet bestenfalls einen Unterhaltungswert.
Welche Kriterien sollte ein Test noch erfüllen, damit er als wissenschaftlich fundiert gilt?
Entscheidend ist, dass er auf einer wissenschaftlich fundierten psychologischen Theorie basiert. Der Big-Five-Persönlichkeitstest (B5T®) beispielsweise, den Sie auf Psychologie Heute anbieten, beruht auf dem Fünf-Faktoren-Model, einem anerkannten Konzept aus der Persönlichkeitsforschung, das jahrzehntelang eingehend untersucht wurde. Der Test misst fünf Persönlichkeitseigenschaften von Menschen, die unabhängig von Faktoren wie Alter, Geschlecht, Nationalität, Sprachraum und Kultur bestehen. Das sind: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus – Letzteres meint, vereinfacht gesagt, wie stabil oder labil man emotional ist.
Psychometrische Tests müssen zudem definierte Kriterien erfüllen: Objektivität, Reliabilität und Validität. Objektivität bedeutet, dass ein Test frei ist von menschlichen Beurteilungsfehlern und niemanden benachteiligt, weil die Ergebnisse auf nachprüfbaren Daten und Fakten beruhen. Mit Reliabilität ist die Testgenauigkeit gemeint, also dass das Testergebnis möglichst genau und fehlerfrei ist und zum Beispiel auch bei wiederholter Durchführung ein sehr ähnliches Ergebnis erzielt wird.
Und was ist mit Validität gemeint?
Damit ist die Aussagekraft eines Tests gemeint, also welche Schlussfolgerungen oder Vorhersagen sich aus dem Testergebnis ableiten lassen. Erzielt etwa eine Schülerin einen hohen Wert bei einem IQ-Test, dann kann man daraus ableiten, dass diese Schülerin auch später überdurchschnittliche Leistungen an der weiterführenden Schule oder der Universität erbringen wird. Im Berufsleben kommt es jedoch noch auf andere Dinge an, so ist zum Beispiel die Persönlichkeitseigenschaft „Gewissenhaftigkeit“ aus dem Big-Five-Persönlichkeitstest ein sehr guter Vorhersagefaktor für die berufliche Leistung. Und dies gilt sogar für Vorstände, wie erst kürzlich eine Masterarbeit mit dem B5T® gezeigt hat: Unternehmen sind erfolgreicher, wenn die Vorstandsmitglieder ein hohes Maß an Gewissenhaftigkeit aufweisen. Der Big-Five-Persönlichkeitstest wird daher immer häufiger auch von Firmen eingesetzt.
Wie wird aus einem solchen wissenschaftlichen Verfahren bei Ihnen ein digitaler Selbsttest, den wir auf Psychologie Heute anbieten?
Die Selbsttests für Psychologie Heute basieren auf den gleichen psychometrischen Verfahren, die ich für Therapeutinnen und Unternehmen entwickle. Damit die Verfahren auch als Selbsttest funktionieren, habe ich lediglich die Auswertung etwas vereinfacht und mit leicht verständlichen Erläuterungen zur Interpretation versehen. Dadurch weisen die Ergebnisse die gleiche wissenschaftliche Qualität auf, sind aber auch für Laien verständlich.
Besteht für die Anwenderinnen ein Unterschied, ob sie einen Test online durchführen oder zusammen mit einer Psychotherapeutin, die einen Fragebogen verwendet? Sind beide Verfahren gleichermaßen aussagekräftig?
Im Prinzip besteht kein Unterschied. Die Aussagekraft ist vergleichbar, allerdings kann nur eine Psychotherapeutin oder eine Ärztin eine Diagnose erstellen, nach einer ausführlichen Anamnese und unter Berücksichtigung weiterer Informationen. Psychometrische Selbsttests können keine ärztlichen und psychotherapeutischen Diagnosen ersetzen.
Wozu dienen die Tests jenseits der Selbsterkenntnis, wo kommen sie noch zum Einsatz?
Das von Psychologie Heute angebotene Eltern-Erziehungsstil-Inventar (EEI) gibt Aufschluss darüber, wie Väter oder Mütter ihr Kind hinsichtlich der vier grundsätzlichen Erziehungsstil-Dimensionen Liebe, Strenge, Selbständigkeit und Religiosität erziehen. Das ist für viele Eltern eine wichtige Erkenntnis, denn die wenigsten kennen ihren Erziehungsstil. Selbsteinschätzungen sind häufig unzuverlässig.
Das Eltern-Erziehungsstil-Inventar kommt aber auch bei Gutachten zum Einsatz. Etwa wenn es um das Sorgerecht geht und die Frage im Raum steht, ob ein Kind gut von den Eltern versorgt wird. Das Testergebnis fließt dann in die Beurteilung der elterlichen Fähigkeiten ein und ergänzt so die Einschätzung von Psychologinnen und weiteren Expertinnen. Der EEI-Test wird zudem in der Erziehungsberatung eingesetzt, um Eltern Tipps zu geben, wie sie ihren Erziehungsstil verbessern können.
Was kann ein Stresstest leisten?
Das Stress- und Coping-Inventar (SCI) auf dieser Website hat einen großen Anwendungsbereich, es ist ein wissenschaftliches Fragebogen-Instrument zur zuverlässigen Messung von Stressbelastung, Stresssymptomen und Stressbewältigungsstrategien (Coping). Wir unterscheiden uns individuell hinsichtlich unserer Belastbarkeit, aber auch unserer Strategien, die wir anwenden, wenn wir unter Druck stehen. Sucht sich jemand in einer schwierigen Lebenssituation soziale Unterstützung bei Freunden und Familie oder steigt der Alkoholkonsum? Der Test gibt nicht nur darüber Auskunft, wie gestresst eine Person in ihrer gegenwärtigen Situation ist. Sondern er zeigt auch, wie ausgeprägt die individuelle Fähigkeit des Coping ist, um mit den Belastungen, die Stress verursachen, zurechtzukommen und welche Ressourcen vorhanden sind.
Hochsensibilität ist ein großes Thema. Lässt sich anhand eines Tests feststellen, ob jemand über eine intensivere Wahrnehmung verfügt?
Der Hochsensibilitäts-Test (HSP) ist in den letzten Jahren populär geworden, da das Wissen um High Sensitivity deutlich gewachsen ist. Menschen, die in diese Gruppe gehören, nehmen Reize intensiver wahr. Sie verfügen nicht über Filter, mit denen sie äußere, aber auch innere Reize ausblenden können, deshalb sind sie emotional häufig sehr aufgewühlt. Untersucht werden im HSP-Test drei zugrundeliegende Faktoren: leichte Erregbarkeit, niedrige Wahrnehmungsschwelle und hohe Empfindsamkeit.
Hochsensiblen bereitet der Alltag häufig Schwierigkeiten, ein Test kann hilfreich sein, um festzustellen: Ich bin eine hochsensible Person und nicht psychisch krank. Das kann die Betroffenen entlasten, ihnen dabei helfen, besser zurechtzukommen und sich besser vor Belastungen zu schützen. Das Testergebnis enthält zudem Tipps, wie man konkret vorgehen kann, um Übererregung zu vermeiden.
Hochsensibilität gilt in der Wissenschaft teilweise als umstritten, warum ist das Thema dennoch so populär?
Einige Kritikerinnen und Kritiker sehen in Hochsensibilität lediglich einen Aspekt von Neurotizismus, einem der Big-Five-Persönlichkeitseigenschaften. Einem Betroffenen kann es aber durchaus helfen, wenn er weiß, dass es gerade dieser Aspekt ist, der bei ihm besonders ausgeprägt ist, um besser mit seiner Umwelt zurecht zu kommen. Ein weiterer Kritikpunkt rührt daher, dass Elaine Aron, die den Begriff geprägt hat, Hochsensibilität ursprünglich für ein einheitliches Merkmal hielt. Spätere Studien konnten jedoch zeigen, dass sich Hochsensibilität wiederum aus mehreren Teilkomponenten wie leichte Erregbarkeit, niedrige Wahrnehmungsschwelle und hohe Empfindsamkeit zusammensetzt. Darum berücksichtigt der von mir entwickelte und auf Psychologie Heute angebotene HSP-Test auch genau diese Teilkomponenten.
Auch im Personalwesen werden psychometrische Tests eingesetzt. Was versprechen sich Arbeitgeber davon?
Häufig laufen Einstellungsverfahren noch so ab, dass Bewerbungsunterlagen gesichtet und ein oder zwei Einstellungsgespräche geführt werden. Seit den 50er-Jahren wissen wir jedoch durch zahlreiche Studien, dass Menschen gravierende Fehler in der Beurteilung anderer unterlaufen. So zählt in Bewerbungsgesprächen beispielswiese häufig der erste Eindruck mehr als die eigentliche Qualifikation einer Bewerberin. Das gilt für Personalleiterinnen genauso wie für Psychiaterinnen und Psychologinnen, die das Krankheitsbild eines Menschen richtig einschätzen sollen. Ein Test ist ein unabhängiges Instrument, das eingesetzt werden kann, um die subjektive Sicht einer Personalleiterin oder einer Psychologin durch eine objektive Perspektive zu ergänzen und so zu einer besseren Einschätzung zu gelangen.
Wie etabliert sind psychologische Tests in Einstellungsverfahren?
Die Akzeptanz ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Das Wissen darüber, was objektive Tests bei der Personalauswahl und Karriereberatung leisten können, hat deutlich zugenommen. Selbst kleinere Unternehmen und Mittelständler setzen mittlerweile digitale Tests ein, die die Bewerberinnen vor dem Einstellungsgespräch durchführen. Die Personalverantwortlichen gewinnen so einen Eindruck, ob die Person zum Unternehmen und zu der Position passt, die besetzt werden soll. Für Jobs im Vertrieb beispielsweise eignen sich Menschen, die eher extraviert und gute Teamplayerinnen sind. Diese Eigenschaften können anhand eines Big Five-Persönlichkeitstest ermittelt werden – neben der schon angesprochenen Gewissenhaftigkeit. In Kombination mit den Grundmotiven und dadurch, dass die Ergebnisse als Profil dargestellt werden, entsteht so ein umfassenderes, objektiveres Bild von einem Bewerber.
Auf psychologie-heute.de werden folgende Tests aus dem Repertoire des Psychologen Dr. Lars Satow angeboten:
Big-Five-Persönlichkeitstest (Wer bin ich?)
Eltern-Erziehungsstil-Test (Wie erziehe ich mein Kind?)
Stress- und Coping-Test (Wie gehe ich mit Stress um?)
Hochsensibilitäts-Test (Bin ich hochsensibel?)
Zur Person:
Dr. Lars Satow studierte Psychologie und promovierte am Institut für Arbeits- Organisations- und Gesundheitspsychologie an der Freien Universität Berlin. Er hat mehrere bekannte psychometrische Tests entwickelt, die sowohl im therapeutischen Bereich als auch im Coaching und im Personalwesen angewendet werden