Graus vorm Geplauder mit Fremden

Psychologie nach Zahlen: Könnte unangenehm werden... Drei Befürchtungen, die uns vor Gesprächen mit fremden Menschen zurückschrecken lassen.

Die Illustration zeigt im Edvard Munch-Stil einen Mann mit Halbglatze und Brille, der die Hände hochhebt und den Mund zu einem entsetzten Schrei formt, während hinter ihm eine Person ihn anspricht
"Oh Schreck! Da möchte jemand mit mir reden." So manche Befürchtung hält uns vor neuen Konversationen mit fremden Personen zurück. © Till Hafenbrak für Psychologie Heute

Eine eherne psychologische Gesetzmäßigkeit besagt: Der Mensch neigt dazu, die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Wir sind bekanntlich alle „überdurchschnittlich“ gute Autofahrerinnen, Leistungsträger im Job sowieso. Doch es gibt eine Ausnahme von der Regel: Was unsere sozialen Kompetenzen angeht, halten wir uns seltsamerweise für eher minderbemittelt. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum sich viele davor scheuen, mit unbekannten Menschen ein Gespräch zu beginnen.

In einer Metaanalyse von sieben Studien, an denen insgesamt 2304 Frauen und Männer teilgenommen hatten, suchten die britische Psychologin Gillian Sandstrom und ihre amerikanische Kollegin Erica Boothby nach den Befürchtungen, die dieser Konversationsscheu zugrunde liegen. Die Versuchspersonen waren zu ihren Erwartungen befragt worden, bevor sie ein Gespräch mit einer fremden Person führen mussten.

Die Forscherinnen stießen auf drei Arten von Besorgnis und – das sei vorab verraten – gemessen daran, wie sich die Teilnehmenden später tatsächlich in den Gesprächen schlugen, erwiesen sich alle drei Ängste als „gewaltig übertrieben“.

1. Missvergnügen

Die stärkste Furcht war, die Gesprächssituation könnte sich schlicht unangenehm anfühlen. Die Unterhaltung könnte bemüht, gestelzt, oberflächlich, einfach peinlich sein: kein wirklicher Kontakt zum Gegenüber, kein interessantes Thema, kein leidenschaftlicher Diskurs wie unter Freundinnen und Freunden, sondern ein verkrampfter Austausch von Belanglosigkeiten und Gemeinplätzen, unterbrochen von peinlichen Pausen.

Man befürchtete also einen Spießrutenlauf für sich selbst und – schlimmer noch – auch für das Gegenüber. In der Tat ergab die Befragung, dass die Teilnehmenden deutlich besorgter waren, die andere Person könnte die Unterhaltung unangenehm finden. Dass es ihnen selbst so ergehen könnte, war für sie weniger tragisch.

In einer der Studien konnte die Versuchsleiterin diese bange Erwartung allerdings mit einem Trick etwas aufhellen und so die Hemmungen senken: Auf dem Weg durch den Korridor verriet sie den Teilnehmenden beiläufig, dass die Person, der sie gleich begegnen würden, schon eine ganze Weile warten musste und nun froh sei, endlich jemanden zum Reden zu haben. Kaum hatte sich die Furcht verflüchtigt, das Gegenüber könnte gar nicht an einer Unterhaltung interessiert sein, wuchs das Zutrauen.

Doch ohnehin war diese Befürchtung meist grundlos. Als die Probandinnen und Probanden – nachdem sie all ihre Skrupel zu Papier gebracht hatten – dann tatsächlich mit der fremden Person ins Gespräch kommen mussten, lief es „nicht nur besser als erwartet, sondern in der Regel ziemlich gut“, so Sandstrom und Boothby.

2. Antipathie

Gemeint ist hier die Furcht, dass man mit seinem fremden Gesprächspartner nicht auf einer Wellenlänge liegen, dass man einander gar unsympathisch finden könnte: Vielleicht teilt diese Person ganz und gar nicht meine politischen Ansichten, vielleicht nervt mich ihr Standpunkt und sie der meine. Oder ich trete bei ihr mit einer abfälligen Bemerkung, etwa über Religion, ins Fettnäpfchen. Oder sie findet meine Kleidung, mein ganzes Auftreten lächerlich.

Wiederum erwies sich die Befürchtung, vom Gegenüber nicht gemocht zu werden, als stärker als die umgekehrte Sorge, man selbst könnte die andere Person nicht sympathisch finden. Das Ausmaß dieses Unterschieds ist sogar erheblich, die Forscherinnen sprechen von einer liking gap, einer Kluft in der Sympathiewahrnehmung. Bevor die Unterhaltung überhaupt startet, geht schon die Angst um, von der oder dem anderen abgelehnt zu werden.

Diese Sorge konnte ein wenig eingedämmt werden, indem die Versuchsleiterin vor dem Gespräch unauffällig auf Ähnlichkeiten zwischen der Person und ihrem Gegenüber hinwies: Beide seien ja hier an der Uni eingeschrieben und etwa im selben Alter – das ließ darauf hoffen, dass man ja doch einen gemeinsamen Nenner finden könnte.

Doch selbst später, nach einer erfolgreich bestrittenen und zudem sogar als angenehm empfundenen Konversation, blieb ein Rest dieser Befürchtung zurück. Die Beteiligten hatten dann meist immer noch den Eindruck, dass sie den Menschen, mit dem sie soeben gesprochen hatten, etwas sympathischer fanden, als dies umgekehrt der Fall war: Eigentlich ist sie oder er ja ganz nett, aber ich selbst habe wohl keinen ganz so guten Eindruck hinterlassen.

3. Unvermögen

Diese Befürchtung besteht darin, dass es einem selbst oder der anderen Person an Know-how und Talent fehlt, um einen Smalltalk elegant zu bestreiten: Ich werde keinen Einstieg ins Gespräch und keinen Draht zum Gegenüber finden, so dass die Unterhaltung nach wenigen Sätzen stockt. Oder umgekehrt: Die andere Person wird nicht mitgehen, sich jedes Wort aus der Nase ziehen lassen. Die Befürchtungen, dass es einem selbst an Kommunikationsfertigkeit mangeln könnte oder aber der anderen Person, liegen hier gleichauf. Das erscheint ja auch logisch: Wenn die Konversation scheppert und schleift, spielt es im Zweifel keine Rolle, auf welcher der beiden Seiten es hakt – das Ergebnis ist schließlich das gleiche.

Konversationstipps der Versuchsleiterin (etwa: „Nicht über Außergewöhnliches, sondern besser über Gewöhnliches reden“) hatten übrigens keinen messbaren Erfolg: Weder stieg das Zutrauen in die eigenen Fertigkeiten, noch lief das Gespräch besser als ohne Ratschläge. Eines allerdings erwies sich als hilfreich: Die tatsächliche Erfahrung, soeben eine gelungene und interessante Konversation hingelegt zu haben, stärkte die Zuversicht – es wird auch beim nächsten Mal kein Fiasko werden!

Tatsächlich scheinen die Gesprächsfertigkeiten eines Menschen vor allem eine Frage von Gelegenheit und Gewohnheit zu sein, so die Forscherinnen. Wie selbstbewusst die Teilnehmenden an ihre Aufgabe herangingen, hing davon ab, „wie normal es für sie ist, mit anderen zu sprechen, und mit wie vielen fremden Personen sie in der vergangenen Woche gesprochen hatten“.

Umgekehrt gelte: „Wenn eine Person von zu Hause aus arbeitet oder allein zur Arbeit fährt, hat sie nur begrenzt Gelegenheit, mit anderen ins Gespräch zu kommen.“ Doch auch in öffentlichen Verkehrsmitteln bilden mitunter soziale Konventionen eine Barriere, so die Autorinnen: „Alle Londoner wissen um die Regel, dass man in der U-Bahn niemanden anspricht.“ (Gillian Sandstrom tut es trotzdem.) Besser geeignet für ein unverbindliches Smalltalktraining seien „semiprivate Orte“ wie ein Vorgarten oder eine Veranda. „Na, auch Feierabend?“

Quelle

Gillian M. Sandstrom, Erica J. Boothby: Why do people avoid talking to strangers? A mini meta-analysis of predicted fears and actual experiences talking to a stranger. Self and Identity, 20/1, 2021, 47–71

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