Was bedeutet Seelenruhe in nervösen Zeiten? Wie sollen wir leben, wenn Krieg ist? Über Fragen, auf die es keine einfache Antwort gibt, muss man streiten. Und manchmal liegt im beherzten, freundschaftlichen Streiten ein Teil der Lösung.
Leon Battista Alberti war als Architekt am Bau des Vatikans beteiligt; er schrieb aber auch die erste italienische Grammatik, Komödien, Aufsätze über Mathematik – und Pferdehaltung. Heute wäre er vielleicht noch Psychologe geworden: Nach seinen Schriften zu Familienbeziehungen liegt jetzt Über die Seelenruhe oder Vom Vermeiden des Leidens in drei Büchern auf Deutsch vor.
Die kulturwissenschaftliche Arbeitsgruppe des Max-Planck-Instituts Florenz hat den Aufsatz aus dem 15. Jahrhundert übersetzt und Stellen kommentiert, die historischer Einordnung bedürfen. Um die Edition zu erarbeiten, haben die Forscherinnen den Quelltext immer wieder neu diskutiert und sind damit Albertis zentraler Lebensempfehlung gefolgt: Bleibt im Gespräch!
Stille in uns selbst finden
Auch der Aufsatz selbst ist vom Autor in Dialogform verfasst. Der fiktive Austausch zwischen Agnolo Pandolfini und Niccola de Medici wird von Albertis Alter Ego „Battista“ protokolliert. Die drei namhaften Florentiner kannten sich auch im echten Leben. Im Text treffen sie sich im Dom Santa Maria del Fiore. Eine Plauderei über den lieblichen Kirchenraum und den Kontrast zum von Bürgerkriegen erschütterten Florentiner Stadtraum führt in die Debatte: Können wir Räume der Stille und Harmonie auch in uns selbst finden? Dürfen wir uns abschirmen? Wie bleiben wir in schweren Krisen berührbar – aber auch tragfähig wie die Säulenreihen des Doms?
Der betagte Agnolo bemüht sich, Niccolas sorgenvollen Blick zu weiten. Kundig breitet er Theorien über die menschliche Seele, ihre Qualen und Wege der Heilung aus. Antike Philosophen kommen zu Wort – Seneca, Homer, Diogenes – und werden von Niccola am Leben geprüft. Stellvertretend für kritische Lesende lässt er sich näher erklären, wie man mit Aristoteles zur inneren Mitte finden kann, während man um einen Platz in der Gesellschaft ringt. Wie hält man die Ratschläge der Alten in sich wach, wenn man wirklich verzweifelt ist?
Die Streitenden brechen zum Spaziergang durch eine Stadt im Umbruch auf. Mit dem mittelalterlichen Florenz ist auch das religiös strukturierte Leben aus den Angeln gehoben. Ambitionierte Baustellen der Renaissance-Architekten weisen in eine offene Zukunft. Inmitten dieser „Zeitenwende“ behauptet Alberti nicht, den richtigen Weg zu kennen. Und kann gerade damit heute Orientierung geben: Er hinterlässt keinen Ratgeber, sondern eine spielerische Anleitung, sich selbst mental in Bewegung zu setzen.
Wer sich auf den (durchaus sportlichen) Lesespaziergang einlässt, wird entlang feiner rhetorischer Wendungen in die Geschichte der Psychologie geführt – und von dort auf neue Zugangswege zum Jetzt.
Leon Battista Alberti: Über die Seelenruhe oder Vom Vermeiden des Leidens in drei Büchern. Herausgegeben von Hana Gründler. Aus dem Italienischen von Victoria Lorini. Klaus Wagenbach, Berlin 2022, 224 S., € 29,–