Als Friedemann Schulz von Thun ein Teenager war, hatte er noch keine Sprache des Herzens. Er konnte nicht spüren oder erklären, was in ihm vorging. Da glich er ganz seinem Vater. „Was hat Papi?“, fragt der kleine Friedemann. „Er mault.“ Mehr gab es dazu in der Familie nicht zu sagen.
Heute ist Schulz von Thun 78 Jahre alt und ein angesehener Kommunikationspsychologe. Die vier Bände von Miteinander reden gelten als Standardwerke innerhalb seines Fachs. Der dritte Band ist sein Herzensband, wie er in Interviews bekennt: Darin stellte er 1998 „das innere Team“ vor. Ein Persönlichkeitsmodell, das uns in Kontakt bringt mit unseren Seelenmitgliedern, die verschiedene Anliegen haben. Berühmt wurde er jedoch bereits 1981 durch die Erfindung des Kommunikationsquadrats. Es ermöglicht, das Ungreifbare unserer Kommunikation zu visualisieren.
Schulz von Thun gelingt mit seiner Arbeit etwas, was vielen in der Wissenschaft schwerfällt: Er drückt Komplexes verständlich aus, seine Gedanken sind zugänglich, seine Sprache ist warmherzig. Er nutzt Wörter wie Wesenstreue, Herzensbildung oder Zumutesein.
Dem Lebenssinn auf den Fersen
Nun hat er ein neues Denkmodell ersonnen, eines, das den Lebenssinn erforscht. Er nennt es das „5-Felder-Modell“, das der Frage nachgeht: Was macht ein Menschenleben zu einem erfüllten Leben? Er rückt also ab von der zwischenmenschlichen Kommunikation und richtet den Blick nach innen. Je mehr die Tiefendimension jedes Feldes von uns erschlossen wird, desto erfüllter ist unser Leben.
Er nennt die Felder Wunscherfüllung, Sinnerfüllung, biografische Erfüllung, Daseinserfüllung und Selbsterfüllung. Ihnen liegen die folgenden Fragen zugrunde: Welche Träume konnte ich leben? Was hat mein Umfeld mir zu verdanken? Wie ist mein Leben verlaufen? Was bedeutet es für mich, geboren zu sein und zu sterben? Wie wird man mich in Erinnerung behalten?
Schulz von Thun widmet jedem Feld ein Kapitel und gewährt tiefen Einblick in seine eigenen Seelen- und Suchbewegungen, die sein Leben und seine Entscheidungen beeinflussten. Er erzählt von der Wortlosigkeit des Vaters und wie er als Siebenjähriger bei seinen Großeltern eine Zeitlang allein zurechtkommen musste. Er dichtet eine Replik auf Hermann Hesses Huldigung des Zaubers des Anfangs und würdigt darin die Beständigkeit. Die Leserinnen und Leser erkennen auf diese Weise, wie eine Sehnsucht (zum Beispiel nach Aufbruch) und ihre innere Gegenstimme (Geborgensein) stetig das Spannungsfeld des inneren Teams ausmachen.
34 Jahre seines Lebens hat Schulz von Thun an der Universität Hamburg gelehrt. Ein unspektakuläres Leben? Er hat sicher nicht wie Hesses lyrisches Ich heiter Raum um Raum durchschritten. Er offenbart in diesem biografischen Essay eher seine innere Heimat, füllt dadurch ein theoretisches Modell mit Lebenseinsichten und Ereignissen auf – und macht es damit zu einer unvergesslichen Erfahrung darüber, wie ein „gelingendes Privatleben zu einer legitimen Herzensangelegenheit“ werden kann.
Friedemann Schulz von Thun: Erfülltes Leben. Ein kleines Modell für eine große Idee. Hanser, München 2021, 224 S., € 20,–