Von vielen Reizen überflutet

Zwei Bücher beleuchten fachkundig bisher wenig differenzierte Aspekte der Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS).

Erst seit den 1980er Jahren ist ADHS fester Bestandteil von klinischen Diagnosemanualen. Zur Störung, die hierzulande etwa fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen und drei Prozent der Erwachsenen betrifft, gibt es mittlerweile ein Grundwissen. Dennoch bestehen auch weiterhin Unklarheiten in Bezug auf Diagnostik, Therapie und Bewertung der noch „jungen“ psychischen Störung.

Betroffene und Eltern kann das verunsichern, etwa wenn es um Entscheidungen zur Wahl von Lerntherapien geht oder um eine Medikamentengabe. Zwei neue Sachbücher bemühen sich, mehr Klarheit in bisher wenig beleuchtete Aspekte von ADHS zu bringen. Das erklärte Ziel beider Titel ist, Betroffenen Orientierung zu geben. Das gelingt in unterschiedlichem Maße.

Abgrenzung zu Wahrnehmungsstörungen

Das Ehepaar Petra und Edgar Friederichs beschäftigt sich vor allem mit der diagnostischen Abgrenzung. Ihre Bamberger Praxis – in der er als Kinderarzt und sie als Familientherapeutin tätig ist – hat sich auf Lern- und Wahrnehmungsstörungen spezialisiert. Täglich werden dort Kinder vorgestellt, die sich schlecht konzentrieren können. Friederichs haben bemerkt, dass viele dieser „ADHS-Verdachtsfälle“ letztlich mit anderen neuropsychologischen Ver­arbeitungsproblemen zu kämpfen haben.

Um zu verdeutlichen, dass nicht jede Unkonzentriertheit gleich zu bewerten ist, beschreiben Petra und Edgar Friederichs wichtige Unterschiede bei ihren Patientinnen und Patienten: Wäh­rend es Kindern mit ADHS oft unabhängig von der Situation schwerfällt, lange aufmerksam zu bleiben, haben andere nur bei speziellen Aufgaben Probleme, zum Beispiel beim Lesen oder Zuhören. Bei diesen Kindern mit „kontextabhängigen und verarbeitungs­abhängigen“ Aufmerksamkeitseinbußen stellt man laut Petra und Edgar Friederichs häufig visuelle oder auditive Wahrnehmungsstörungen fest, also Schwierigkeiten bei der Verarbeitung akustischer oder visueller Reize.

Entsprechend unterschiedlich sei auch das therapeutische Vorgehen bei den beiden Störungen. Die diagnostische Einordnung scheint allerdings schwierig, die Autoren weisen darauf hin, dass die Symptome beider Störungen sich ähneln und die übliche psychologische Diagnostik nicht ausreiche. Um Wahrnehmungsstörungen zuverlässig zu erkennen, nutze eher der Einsatz von Gehirnstrommessungen mit dem EEG.

Mehr Transparenz nötig

Diese Ausführungen der Fachleute klingen zunächst sinnvoll. Denn natürlich möchte man Betroffene passgenau behandeln. Bei fortschreitender Lektüre nimmt allerdings die Irritation zu. Während die Friederichs einerseits genau erklären, wie EEG-Bilder bei den unterschiedlichen Wahrnehmungsstörungen aussehen, verschiedene Fälle vorstellen und immer weiter ins Detail gehen, vernachlässigen sie auf der anderen Seite eine Einordnung ihrer Sicht­weise in den Kanon der psychopathologischen und neuropsychologischen Diagnostik.

Sie machen nicht deutlich, dass auditive und visuelle Wahrnehmungsstörungen seltener auftreten als ADHS. Auch fehlt eine klare Abgrenzung zu anderen psychischen Leiden, etwa zur Depression, die ebenfalls oft mit Unkonzentriertheit verbunden ist.

Um Betroffenen und Eltern mehr Mündigkeit für anstehende medizinische Entscheidungen zu ermöglichen, hätten die beiden gut daran getan, diese Zusammenhänge transparenter darzustellen. Dass ihnen generell an Hilfestellung gelegen ist, zeigt sich in einem Praxisteil, der hilfreiche Tipps für Eltern gibt.

Handlungsempfehlungen im Beruf

Um Ermutigung geht es auch dem Psychiater Heiner Lachenmeier in seinem Buch Mit ADHS erfolgreich im Beruf, das sich an Erwachsene richtet. Der Autor, der sich selbst flapsig als „ADHSler“ bezeichnet, ist davon überzeugt, dass Betroffene sich im Job dann sinnvoll positionieren können, wenn sie ihre Wahrnehmungseigenheiten kennen und konstruktiv damit umgehen.

Dazu stellt er Fakten und Schaubilder bereit und verdeutlicht Unterschiede in der Wahrnehmung von Menschen mit und ohne ADHS. Aus diesen Besonderheiten leitet er Handlungsempfehlungen ab. So beschreibt Lachenmeier etwa, dass Menschen mit ADHS besonders in neuen Situationen oft von Reizen überschwemmt werden. Um mit dieser Eigenart in einem neuen Job zurechtzukommen, biete es sich an, in den ersten Tagen Routineabläufe zu notieren und noch mal bewusst durchzugehen. Man gestehe sich so ein, dass man anfangs oft überfordert ist, gebe sich aber Zeit, die Schwierigkeiten auszugleichen.

Selbstbewusstsein & Achtsamkeit

Es zeichnet den Text aus, dass er nicht nur zeigt, wie Menschen mit ADHS mit ihren Schwächen umgehen können, sondern dass er auch Wege eröffnet, wie man Wahrnehmungsbesonderheiten nutzen kann. Das illustriert der Psychiater anhand zahlreicher Fallbeispiele. Er schildert Berufsbiografien von Menschen mit ADHS, die oft durch Verlässlichkeit und Erfindungsreichtum gekennzeichnet sind.

Eine gewisse Störanfälligkeit bleibt bei den meisten aber bestehen. Dementsprechend empfiehlt der Arzt einen ebenso selbstbewussten wie achtsamen Umgang mit ADHS im Job. In seinem Buch findet man unzählige Tipps, die Erwachsenen mit ADHS mehr Handlungsspielräume geben. Vielleicht sollte man die Lektüre auch Eltern betroffener Kinder ans Herz legen. Sie könnten sehen, dass man mit der Störung auf Dauer selbstverantwortlich und fokussiert leben kann.

Literatur

Petra Friederichs, Edgar Friederichs: Es muss nicht immer ADHS sein. Lern- und Verhaltensstörungen frühzeitig erkennen und erfolgreich behandeln. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 336 S., € 25,–

Heiner Lachenmeier: Mit ADHS erfolgreich im Beruf. So wandeln Sie ­vermeintliche Schwächen in Stärken um. Springer, Berlin 2021, 212 S., € 22,99

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