Kompetenz im Menschsein

Psychologie nach Zahlen: 5 Erkenntnisse über die Weisheit – und warum sie nicht nur eine Frage des Verstandes ist.

Die Illustration zeigt eine alte Frau mit Gehstock und sehr langen weißen Haaren, die einen Berg voranschreitet, während ihre Haare einen Weg formen auf dem ihr Menschen folgen
Weisheit entwickelt sich im Laufe des Lebens - aber nicht jede Person wird es mit dem zunehmenden Alter tatsächlich. © Till Hafenbrak

Menschen streben nach Weisheit. Bereits Jahrtausende vor den antiken griechischen Philosophen fragten sich die Bewohner des Vorderen Orients, was Weisheit ist und was ein weises Leben ausmacht. Einige ihrer Überlegungen hielten sie auf Tontafeln fest, die bis heute überdauerten. Seit etwa vierzig Jahren erforscht auch die Psychologie Weisheit. Statt Tontafeln bevorzugt sie Handbücher, um dort Einsichten wie die folgenden festzuhalten.

1. Weises Denken

Der deutsche Psychologe Paul Baltes (1939–2006) und seine Kollegen und Kolleginnen am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gelten als die Pioniere der Weisheitsforschung. Sie definieren Weisheit als „Expertenwissen in Bezug auf die fundamentalen Tatsachen des menschlichen Lebens“. Und wie macht sich dieses Expertenwissen im Alltag bemerkbar?

Ein weiser Mensch setzt sich sowohl mit kleinen Problemen als auch schwierigen Lebensfragen überlegt auseinander. Er verlässt sich dabei auf Einsichten aus seinen früheren Erfahrungen und auf das Wissen, das er im Laufe seines Lebens gewonnen hat. Außerdem betrachtet er eine Situation aus verschiedenen Perspektiven. Auch lässt eine weise Person andere Meinungen und Überzeugungen neben der eigenen zu. Sie kann auch zugeben, wenn andere im Recht sind und sie selbst falsch liegt. Ein weiser Mensch weiß also um seine Grenzen – und akzeptiert sie. Weisheit ist in tiefgehender und anhaltender Selbstreflexion verwurzelt.

2. Weises (Mit-)Fühlen

„Weise Menschen sind sich ihrer Emotionen bewusst.“ Das schreibt Judith Glück von der Universität Klagenfurt. Weise Menschen verdrängen ihre Emotionen nicht. Sie setzen sich mit ihnen auseinander – nutzen sie gar als Hinweise und Denkanstöße, etwa um festzustellen, ob sie etwas an ihrem Alltag ändern möchten und wie sie sich verhalten sollten. Weisheit bedeutet auch, wohlwollend gegenüber seinen Mitmenschen zu sein.

„Altruismus und Empathie scheinen eng mit Weisheit verbunden“, sagt Glück. Diese und andere Beobachtungen gewinnen die Forschenden aus Umfragen und experimentellen Studien. Sie konfrontieren ihre Freiwilligen beispielsweise mit heiklen Szenarien wie diesem: Eine Fünfzehnjährige möchte von daheim ausziehen – was könnte man bedenken und tun? Die Freiwilligen denken laut über die fiktive Herausforderung nach. Die Forschenden werten dann diese Denkprotokolle nach vorher fest­gelegten Kriterien aus.

3. Weisheit und Alter

Es gibt extravertierte und introvertierte, verträgliche und rücksichtslose Menschen – aber gibt es auch einen weisen Persönlichkeitstypus? Das scheint eher nicht der Fall zu sein. Lebenserfahrung ist grundlegend für ein weises Denken und Handeln. Deshalb scheint Weisheit eher eine Eigenschaft, die man im Laufe seines Lebens allmählich entwickelt. Die meisten von uns betrachten Menschen von 50 bis 70 Jahren am ehesten als weise. Aber nicht jede Person wird es mit dem zunehmenden Alter tatsächlich.

Zu den von der Forschung ermittelten Faktoren, die die Entwicklung zu einem weisen Menschen begünstigen, zählen die allgemeine und die soziale Intelligenz und die Offenheit für neue Erfahrungen. Diese drei fördern die Selbstreflexion und den Erfahrungsschatz. Auch der Beruf scheint eine Rolle zu spielen: Wer dort anderen als Mentorin oder Mentor beiseitesteht oder einer ähnlichen sozialen Tätigkeit nachgeht, entwickelt häufiger Weisheit.

4. Weisheit und Kultur

Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen teilen im Großen und Ganzen dieselbe Vorstellung von Weisheit. Aber Forschende dokumentieren auch kleine Unterschiede: Je nach Tradition wird eine andere Facette der Weisheit hervorgehoben. Grundschulkinder im Iran und in Österreich empfinden weise Menschen als klug und gutherzig. Aber im Gegensatz zu den österreichischen erwähnten die iranischen Kinder, dass Weise sich an Normen und Regeln halten. In einer anderen Studie betonten jüdische Teilnehmer und Teilnehmerinnen, dass ein weiser Mensch viel weiß, während muslimische Freiwillige eine weise Person häufiger als fürsorglich beschrieben.

Solche feinen Unterschiede werden unter anderem mithilfe vielschichtiger Fragebögen ermittelt. Die Forscherinnen und Forscher wollen von den Befragten beispielsweise wissen: Wen würden Sie als weise bezeichnen? Welche Eigenschaften assoziieren Sie mit Weisheit? Wann haben Sie selbst sich weise verhalten? Wen halten Sie für weise und wieso? Forschende stellten diese Fragen unter anderem auch Menschen in Uganda, die in ihrem Leben immer wieder mit lebensbedrohlichen Situationen wie Ernteausfällen und Hungersnöten konfrontiert werden. Für diese Befragten ist ein weiser Mensch auch jemand, der seine Familie am Leben halten kann.

5. Weisheit und Wohlbefinden

Weisheit kommt Menschen aber nicht nur in schwierigen Lebenssituationen zugute – sie scheint auch zum Wohlbefinden einer Person beitragen zu können. Dafür haben Forschende mehrere Erklärungsansätze. Beispielsweise wissen weise Menschen ihr Leben womöglich stärker zu schätzen, als es ihre Mitmenschen tun – und empfinden Dankbarkeit, die wiederum das Wohlbefinden fördert.

Die Akzeptanz der Lebenssituation, auch wenn sie bisweilen nicht einfach ist, könnte ebenfalls ein wichtiger Grund für das Wohlbefinden sein: Weise Menschen hadern weniger mit Gegebenheiten, die sie nicht ändern können. Dadurch ersparen sie sich ängstigende und deprimierende Grübeleien, die zu nichts führen.

„Ein anderer Grund für die Zufriedenheit weiser Menschen ist vielleicht das Selbstmitgefühl“, schreibt Monika Ardelt von der University of Florida. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Fehlermachen und Scheitern grundlegende Bestandteile des menschlichen Lebens sind. So fällt es weisen Menschen leichter, ein gesundes wie hilfreiches Gleichgewicht herzustellen: Sie machen sich zwar Gedanken über ihre Fehler und Unzulänglichkeiten, ziehen jedoch eine Lehre aus ihnen und akzeptieren sie. So sind sie nicht nur gegenüber künftigen Herausforderungen besser ausgerüstet, sondern in sich selbst gefestigter – und zufriedener.

Literatur

Robert J. Sternberg, Judith Glück: Wisdom. The Psychology of Wise Thoughts, Words, and Deeds. Cambridge University Press 2021

Robert J. Sternberg, Judith Glück (Hg.): The Cambridge Handbook of Wisdom. Cambridge University Press 2019

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