Ein Erdbeben, eine lebensbedrohliche Erkrankung, Konflikte bei der Arbeit: Solche Ereignisse werden heute als potenzielle Stressauslöser angesehen. Längst gilt Stress als universelles Konzept. Er kann körperlich gemessen und nachgewiesen werden, etwa über den Kortisolspiegel, den Herzschlag oder Schweiß. Diese körperlichen Reaktionen zeigten Menschen vermutlich schon immer.
Aber laut Fabian Hutmacher, Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Würzburg, ist Stress vor allem ein modernes Konzept – und trotz aller physiologischen Korrelate ein überwiegend psychologisches. Es ermögliche heutigen Menschen der westlichen Gesellschaften, sich darüber zu definieren und eine bestimmte Art der Kommunikation darüber zu führen.
Hutmacher konstatiert, dass wir über die psychische Befindlichkeit in den Kulturen unserer Vorfahren schlicht zu wenig wissen, um Vergleiche zu ziehen. Der Wissenschaftler zitiert unter anderem Untersuchungsergebnisse zu „Ötzi“, dem Mann aus der Steinzeit, dessen Mumie im Jahr 1991 gefunden worden war. Einige Forscherinnen und Forscher nahmen an, mehrere Erkrankungen, die der Mann vermutlich hatte, seien das Ergebnis von massivem Stress gewesen.
Hutmacher hält dagegen: Eher habe der Mann wohl unter Mangel gelitten, der die Erkrankungen ausgelöst haben könnte – wie er das aber subjektiv empfunden habe, lasse sich aus den Forschungen nicht ableiten. Das Konzept „Stress“, um sich selbst zu definieren und anderen gegenüber von sich selbst zu erzählen, habe den Menschen in früheren Jahrtausenden nicht zur Verfügung gestanden.
Fabian Hutmacher: Putting stress in historical context: Why it is important that being stressed out was not a way to be a person 2,000 years ago. Frontiers in Psychology, 2021. DOI: 10.3389/fpsyg.2021.539799