Warum sind wir „verdammt zum Wiederholen“?

Warum wir Situationen, Handlungen und Gedanken zwanghaft wiederholen müssen, obwohl wir darunter leiden, erklärt Gerhard Wilke im Interview.

Die Illustration zeigt den Autor Gerhard Wilke
Gerhard Wilke ist Ethnologe, Gruppenlehranalytiker, Organisationsberater, Supervisor und Coach in London. © Jan Rieckhoff

Manche Menschen verlieben sich immer wieder in gewalttätige Partnerinnen oder Partner, andere landen ständig in Arbeitsverhältnissen, die ihnen nicht guttun. Warum wiederholen Menschen Situationen, Handlungen und Gedanken, obwohl sie dadurch leiden oder sich quälen?

Um Vertrautes und Unvertrautes abzugleichen, greifen wir auf die unbewussten Erfahrungen mit Eltern, Geschwistern und Verwandten zurück. Jeder von uns lernt diese emotionale Sprache wie die Muttersprache vom ersten Lebenstag an; wir repetieren sie in der Schule, in der Arbeitswelt, in der Ehe, überall.

Wenn man beispielsweise von den Eltern erfahren hat, unerwünscht oder nicht richtig zu sein, und in eine neue Schulklasse eintritt, tut man dies mit der Erwartungshaltung, genauso behandelt zu werden und die gleiche Rolle in der Gruppe zu übernehmen wie zu Hause. Bei der Partnerwahl etwa läuft nicht selten folgender Film unbewusst im Hinterkopf ab: „Ich glaube, der/die ist ähnlich verrückt genug, um mich zu verstehen.“ Doch diese tiefere Wahrheit tritt erst nach dem Ende des Verliebtheitsrausches entweder positiv oder negativ zutage. Ob man in der Arbeitswelt in der Täter-, Mitläufer- oder Opferrolle landet, hängt ebenfalls von den frühesten Prägungen sowie den pubertären Erfahrungen ab: Oftmals wählt man lieber schmerzhaft Vertrautes als bedrohlich Fremdes.

Sind wir also tatsächlich „verdammt zum Wiederholen“ wie Sigmund Freud behauptete?

Wir wiederholen so lange alte Muster, bis wir diese zu reflektieren lernen, um uns in kleinsten Entwicklungs- oder Therapieschritten von ihnen zu entbinden. Sie basieren auf den verinnerlichten Interaktionsmustern aus der frühes­ten Kindheit und Jugend. Diese Penetranz der unbewussten Verhaltensmuster wirkt so lange nach, weil Menschen das Vertraute gegenüber dem Unvertrauten bevorzugen.

Nicht nur Individuen, auch Organisationen leiden unter einem Wiederholungszwang. Warum haben Meetings „die Tendenz, neue Meetings zu gebären“?

Jede Organisation hat eine vertraute Kultur sowie spezifische Ängste und Abwehrmechanismen. Die verbreitete Angst, geschluckt und marginalisiert zu werden, gebiert Abwehrreflexe, die den individuellen und Gruppenmechanismen ähneln: Kampf oder Flucht, depressive Abhängigkeit, die Suche nach charismatischen Führern. Diese Muster wiederholen sich in Krisen, jedoch auch in Meetings, deren Hauptfunktion die Vergewisserung darüber ist, dass die Arbeitsteilung nicht nur trennend, sondern vielmehr auch integrierend wirkt. Meetings sind ein Absicherungsritual gegen den Verlust von Verbindungen, gegen Unsicherheit und Ohnmacht. Sie sind jedoch auch der Geburtsort für die steigende Flut und das krebsartige Wuchern der Bürokratiemonster. Körperlich bieten sie eine Art Beruhigungsritual, oftmals jenseits von faktischer Notwendigkeit.

Wie kann es gelingen, sich vom Wiederholungszwang zu befreien?

Meine Co-Autorin Astrid von Friesen und ich stimmen Sigmund Freud zu, dass das „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ die beste Abwehr gegen die Zwänge der Wiederholungsmuster ist. In Therapien sollte intensiver auf transgenerationelle Wiederholungsmuster geachtet werden. Bei der Leitung von Meetings raten wir anhand von zahlreichen Fallbeispielen, nicht nur gedankenlos auf der Sachebene zu agieren, sondern vielmehr die wiederholten Ängste und Abwehrmuster untereinander zur Sprache zu bringen, um Freiräume für Gedankenspiele und kreativere Lösungen zu ermöglichen.

Gerhard Wilke ist Ethnologe, Gruppenlehranalytiker, Organisationsberater, Supervisor und Coach in London

Gerhard Wilkes Buch Die Macht der Wiederholungen, das er gemeinsam mit Astrid von Friesen verfasst hat, ist bei Amazon/Kindle erschienen (356 S., € 19,25)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2021: Sich wieder nah sein
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