Professor Greve, in dem Buch Zwanzig Leben, das Sie zusammen mit Ihrer Kollegin Tamara Thomsen herausgegeben haben, erzählen Menschen von den Wendepunkten in ihrem Leben. Ihre Gesprächspartner erzählen dramatische Geschichten wie der vierzigjährige Thomas, der schon das zweite Mal an Krebs erkrankt ist. Oder auch stillere Erlebnisse wie Rosemarie, die als Kind nicht gewollt war. Es ist ein eher ungewöhnliches Buchprojekt für einen Psychologieprofessor – wie kamen Sie darauf?
Ich forsche schon sehr lange über die Bewältigung von Krisen im allgemeinen und Resilienz im Besonderen. Und die moderne Psychologie ist ja aus guten Gründen deduktiv und quantitativ. Aber dabei droht ein wenig die Gefahr, dass man vergisst, dass es Gesichter hinter den Mittelwerten gibt. Die Idee des Buches war, diese Gesichter zu zeigen – Frau Thomsen hat fotografiert – und die Lebensgeschichten der Menschen zu erzählen. Es sollte lebendig sein und zugleich auch eine Illustration, die man sonst so in der akademischen Psychologie wenig findet.
Es sind eigentlich „ganz normale“ Leben, von denen Sie erzählen. Beim Lesen wird einem klar, wie viele Menschen Belastendes erlebt haben.
Genau, das war auch die Entdeckung bei der Arbeit am Buch: Im Grunde hat jeder Mensch eine Geschichte von Krisen und Wendepunkten zu erzählen. In Zwanzig Leben sind natürlich ein paar sehr dramatische Erzählungen dabei, aber auch ein paar sehr normale – die sich aber innen auch dramatisch angefühlt haben. Ein Beispiel, das jeder kennt: Die enttäuschte Liebe mit 16 – da geht das ganze Universum zu Ende, auf der Stelle: „Niemand wird mich jemals lieben, und das zurecht. Ich bin verloren.“ Und wenn man mit 60 auf 16 zurückschaut, ist es nicht mehr ganz so schlimm.
Aber Sie sagen ja auch: Der Schmerz ist nicht vergessen. Wenn man sich zurückerinnert, ist bestimmt jedem präsent, wie sehr er unter der ersten enttäuschten Liebe gelitten hat – und das will man ja auch rückblickend nicht lächerlich machen.
Das finde ich gerade das Fesselnde: dass man den Schmerz nicht vergisst und trotzdem wieder lachen lernt.
Ja, keiner der Menschen in Ihrem Buch wirkt mutlos oder gebrochen – trotz der zum Teil dramatischen Erlebnisse. Eine der eindrucksvollsten Besonderheiten von uns Menschen sei die unglaubliche Elastizität, mit der wir kritische Erfahrungen verarbeiten, sagen Sie. Können Sie mir ein Beispiel geben, was Sie mit Elastizität meinen?
Dass wir es schaffen, das Erlebte nicht vergessen oder verdrängen zu müssen. Und es trotzdem so einordnen, dass das Leben seinen Sinn entweder wiedergewinnt oder gar nicht erst verliert. Ich vergleiche das immer mit einem großen Baugerüst, das uns stützt und das wir umbauen müssen. Im ersten Moment denken wir: Jetzt ist das Leben zu Ende. Und dann müssen wir das Baugerüst Stück für Stück verändern. Wenn wir alle Stangen auf einmal umstecken würden, dann ginge das Gerüst kaputt. Aber wir können hier eine Stange umstecken und dort und nach einer längeren Umbauzeit steht kein Stück mehr da, wo es einmal gestanden hat.
Wenn Sie Ihr Bild von sich selbst heute mit dem vergleichen, das Sie mit 16 oder mit 26 hatten, dann vermute ich, dass sehr viele Details anders sind. Aber der Umbau war so langsam, so schrittweise, dass es trotzdem Ihre Identität geblieben ist, die ganze Zeit.
Sie schreiben, dass es uns aufgegeben ist, „das Lehrreiche in jedem Moment zu finden und wohl auch das Schöne“. Momentan, in der Coronakrise, ist das für viele Menschen schwer vorstellbar. Kann ich lernen, das Lehrreiche und Schöne in diesen Zeiten zu sehen?
Es ist sehr schwer, das für andere Menschen zu sagen. Ich zögere vor allem deswegen, weil es schnell diesen unschönen, belehrenden Unterton bekommt. Um nochmal das Beispiel der ersten enttäuschten Liebe aufzugreifen: Da gab es garantiert jemanden, der gesagt hat: "Schlag sie dir aus dem Kopf." Oder: "Die hat eh' nicht zu dir gepasst." Das mag stimmen - aber es hilft nicht. Nur wir selber können uns sagen, dass die Dinge, die uns belasten, plötzlich eine andere Seite haben. In dem Buch steht ja auch ein Kapitel, in dem ich über die Wendepunkte in meinem Leben berichte. Ein Wendepunkt war die Geburt meiner Tochter, die behindert ist.
Und natürlich ist das im ersten Moment nicht die Nachricht, die man sich gewünscht hat, nicht das, auf das man gehofft hat, als die Schwangerschaft begann. Aber meine Tochter ist ein ganz wunderbarer Mensch. Und bei allem Windelwechseln, das dann über viele Jahrzehnte nötig war, ist das, was ich durch sie gelernt habe und an ihr an Lachen erlebt habe, etwas sehr Schönes und Tiefes. Und ich meine nicht etwas Schönes im Sinne der sauren Trauben. Es geht nicht darum, sich die Sache grün anzumalen und dadurch bunt zu nennen. Sondern es geht darum, einen Schritt zur Seite zu treten und uns das Ereignis mit einem anderen Gegenlicht anzuschauen. Was kann in dieser Erfahrung noch drinstecken? Und trotzdem die Trauer und den Schmerz nicht zu leugnen.
Das würden Sie auch dem Vorwurf entgegen, wenn man sagt, Sie würden Krisen schönreden?
Genau. Ich glaube, dass nichts an sich gut oder schlecht ist. Alles hat immer ganz viele Seiten, es hängt sehr von der Perspektive ab, und die Bewertung ist eben elastisch. Je mehr Perspektiven ich finde, desto gerechter werde ich - der Person, dem Ereignis, der Erfahrung, dem, was mir da wiederfahren ist. Und dann ist die Aufgabe natürlich auch, das Unangenehme nicht zu bestreiten, nicht zu sagen „Ach komm, ist nicht so schlimm.“ Doch, isses.
Kann ich das üben, mehr Perspektiven zu finden?
Das ist ein Aspekt, über den ich gerade viel nachdenke. Manchmal lernen wir es, weil es nötig ist, in einer Krise oder weil wir gerade Schmerzhaftes erleben. Aber schöner wäre es ja, wenn wir es vorher schon üben könnten. Kann ich nicht schon versuchen, im Alltag mehr als eine Perspektive auf harmlose Dinge zu werfen? Wenn ich ein Buch lese, habe ich meist irgendeine Sympathie: Diese Person mag ich, diese nicht. Und dann versuche ich mir zu sagen: Versuch’s mal umgekehrt.
Und, klappt das?
Manchmal mehr, manchmal weniger. Es ist eine Flexibilitäts-Fingerübung. Und je mehr ich das mache, desto eher kann ich es, wenn ich es brauche.
Wenn Menschen so sehr die Fähigkeit haben, Belastungen zu überleben, dem Leben wieder Sinn abzuringen, Zuversicht zu bewahren: Würden Sie dann sagen, dass sich die Psychologie und die Medien zu sehr auf Phasen des Nicht-Bewältigens im Leben fokussieren?
Mir scheint schon, dass es ein Verdienst der Gegenwart ist, das Leid auch Leid nennen zu dürfen. Wenn Diskriminierung passiert, wenn Burnout passiert, das ist ja keine Anstellerei oder Schwäche, das ist wirkliches Leid. Und das nicht zu verharmlosen, ist ein großer sozialer Gewinn. Vielleicht unterschätzen wir das Potential, aus dem Leid wieder herauszufinden. Aber das unterschätzen wir nicht deswegen, weil wir nicht hingucken, sondern weil es wirklich Zeit braucht. Schauen Sie sich die Geschichten an, die wir in unserem Buch gesammelt haben: Zum Beispiel die Frau, die unter Depressionen, Alkoholsucht und einer Zwangsstörung litt. Sie hat sehr lange gebraucht, da herauszukommen. Es geht mir keinesfalls darum zu sagen: "Das wird schon wieder gut" - das würde dem Schmerz nicht gerecht werden. Sondern eher: Es gibt eine Chance auf Wieder-gut-Werden, wenn wir der Erfahrung, dem Leid, dem Schmerz die Zeit lassen, die sie verdienen. Und das könnte man vielleicht ruhig ein bisschen mehr betonen.
Sagen manche Menschen denn auch: Ich möchte die Krise nicht missen, sie hat mich zu dem gemacht, der ich bin?
Nein, ich würde es ein wenig anders ausdrücken: Wäre das nicht passiert, wäre ich nicht der, der hier sitzt. Und in diesem Sinne kann ich die Krise gar nicht missen.
Sie haben ja für Ihr Buch die Form des Geschichten-Erzählens gewählt. Haben Sie den Eindruck, das könnte auch für diese Corona-Zeiten eine Form sein: dass wir uns gegenseitig unsere Geschichten erzählen, um ihnen mehr Sinn abzuringen?
Mein Eindruck ist, dass das schon passiert. Als es vor einigen Wochen wieder losging mit echten Begegnungen, in aller Vorsicht und mit reduzierter Frequenz, da war doch das erste, was wir gemacht haben, uns auszutauschen: Was ist denn deine Corona-Geschichte? Wir erzählen uns Geschichten, schmerzhafte, aber auch heitere, augenzwinkernde. Und die Menschen hören vielleicht sogar mehr zu als vorher. Ich habe mehrere alte Freunde angerufen, die ich lange nicht mehr gehört hatte. Ich hatte nicht mal ein Anliegen, ich wollte nur wissen, wie es ihnen geht. Das wäre ohne Corona nicht passiert. Und damit sage ich nicht: Covid19 ist ein Segen. Aber für mich war das eine der Sachen, die schön waren an der Krise – und nicht nur lehrreich.
Werner Greve ist Psychologieprofessor an der Universität Hildesheim. Sein Buch Zwanzig Leben ist im Georg Olms Verlag erschienen