Die große Pausetaste

Wenn das Leben auf Stopp steht, können wir nur gemeinsam die Krise überwinden – ob nun Therapeut oder Patient.

Liebe Klienten,

Einer der ungewöhnlicheren Aspekte einer psychotherapeutischen Begegnung ist ihre Asymmetrie. Der Klient öffnet sich, der Therapeut ordnet das, was er hört, ein. Er bietet Aufgaben oder Deutungen an, die allein dem Klienten dienen sollen, nicht ihm selbst. Er fühlt mit, aber er ist nicht unmittelbar betroffen. Das ist in diesen Tagen anders.

Die Sorgen um Corona und die Folgen teile ich mit meinen Klienten, mit allen Menschen. Sie beschäftigen mich genauso wie Sie, wenn Sie in meine Praxis kommen. Sie beschäftigen mich auch dann noch, wenn Sie wieder gegangen sind, denn diese Ängste sind nicht allein Ihr Problem, es ist auch meines, unseres.

Alltag? Gibt es gerade nicht

Sie erwarten vielleicht mehr von den Fachleuten – seien es Journalisten oder Therapeuten – die sich damit auskennen sollten, wenn die Ängste größer sind als sonst. Sie wollen wissen: Sollte man sie behandeln wie eine der vielen Angststörungen: mit Grübelpausen, mit Ablenkung, mit Sport? Mit therapeutischen Gesprächen, in denen wir die Übertriebenheit dieser Ängste herausarbeiten, damit wir danach wieder zum Alltag übergehen können? Die Antwort muss „NEIN“ lauten, denn diesen Alltag gibt es gerade nicht. Jemand hat auf die ganz, ganz große Pausetaste gedrückt.

Es ist nicht unsere Expertise in der Angstbewältigung, die Sie jetzt brauchen. Und auch nicht die Yoga-, Atem- und Entspannungsübungen und die Lektionen über die biologischen Gründe unserer Ängste. All das ist gelegentlich hilfreich. Doch am Ende werden die Ängste bleiben. Vielleicht weil sie es sollten. Weil sie eine reale Basis haben.

Therapeuten sind auch nur Menschen

Sie sollten stattdessen von uns erwarten, dass wir offen sind und sagen, dass wir bei der Bewältigung unserer zumeist realen Lebensprobleme auf Sie genauso angewiesen sind, wie Sie auf uns. Sheldon Kopp, ein Psychotherapeut, der trotz eines in ihm wachsenden Hirntumors noch viele Jahre praktiziert und Bücher über seine Arbeit publiziert hat, hat es einmal sinngemäß so gesagt: Die größten Fortschritte machen Menschen in der Therapie immer dann, wenn sie erkennen, dass die Therapeuten auch nur Menschen sind. Dann können wir gemeinsam anfangen, etwas zu verändern.

Wälle von Klopapier und Nudeln

In dieser Situation sind wir jetzt auch gerade. Der beste Umgang mit der Angst besteht nicht darin, dass wir Wälle aus Klopapier und Nudeln gegen sie errichten. Und es reicht auch nicht aus, achtsam zu sein und der eigenen Angst damit für eine Weile ihre Macht zu nehmen. Ersteres ist schlichter Unsinn. Letzteres ist nur ein erster Schritt. Ein besserer Umgang besteht darin, danach zu schauen, welche Ängste und Nöte wir bei unseren Nachbarn, Freunden und in unserer Familie sehen. Dass wir dafür offene Ohren haben und so gut wie möglich helfen, diese Not zu lindern. (Auch wenn wir nicht wissen, wie. Der Versuch zählt!)

Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt man. Das ist ein magischer Prozess. Dieser Prozess gibt den Boden dafür ab, der uns davor bewahrt, in der Krise einer nach dem anderen in einen Abgrund zu stürzen. Geben wir uns also gegenseitig Halt. Das dürfen Sie von uns erwarten. Ich erhoffe mir nicht weniger von Ihnen.

Herzliche Grüße,

Thorsten Padberg

Thorsten Padberg ist Diplompsychologe und ­arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Berlin

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