Geschichten vom tiefen Tal

Wer die erschütternde Episode in seinem Leben als Geschichte der Gesundung »redemption story« erzählen kann, dem geht es nachhaltig besser.

„Es war das schlimmste Wochenende meines Lebens, und die Monate danach waren furchtbar.“ Nach einem ausgelassenen Abend mit ihrem Ex-Freund macht die junge Frau den Fehler, noch mit hoch in sein Zimmer zu kommen. Dort vergewaltigt er sie. Danach ist sie wie apathisch. „Ich war in einem Zustand des Unglaubens und Schocks.“ Jeden Morgen wird sie von einer Verzweiflung geweckt, wie sie sie nie zuvor empfunden hat. Sie fühlt sich schuldig, voller Scham. Doch sie kommt darüber hinweg.

Dies ist eine der autobiografischen Episoden, die 144 Studierende für ein Forschungsteam der Universitäten von North Carolina und Dayton niederschrieben. Sie wurden gebeten, eine Episode von einem Höhepunkt und einem Tiefpunkt ihres Lebens zu erzählen. Während die heiteren Gipfelerlebnisse ohne erkennbaren Einfluss blieben, hatten es die Tiefpunkte in sich. Wie sich herausstellte, stand eine bestimmte Dramaturgie dieser Geschichten von damals in Verbindung mit dem Wohlergehen von heute: Wer diese erschütternde Episode und ihre Folgen für das eigene Leben als eine Geschichte der Gesundung (redemption) erzählte, aus der er erschüttert, aber gereifter und sogar seelisch gefestigter hervorging, dem ging es tatsächlich besser. Diese Personen waren zufriedener mit ihrem Leben und fühlten sich wohler in ihrer Haut.

Diese Erkenntnis bestätigte sich in einer Folgestudie mit 164 Teilnehmern im Alter von Mitte 50. „Der Tiefpunkt in meinem Leben“, berichtet ein Mann, „war der Tag, als meine Frau starb“ – an einer Krebserkrankung, mit Tumoren in Hirn, Lunge, Leber. Die Erschütterung habe ihn verändert, erzählt er. Vorher sei er ein emotional flacher Mensch gewesen. Angst und schlechte Gefühle habe er „weggedrückt“. Doch das Sterben seiner Frau habe ihn gelehrt, Verzweiflung zuzulassen und „die Dinge vollständig zu empfinden“. Teilnehmer, die wie dieser Mann ihren Gang durch das tiefe Tal als eine Geschichte von Reifung und Persönlichkeitswachstum erzählen konnten, berichteten über mehr Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden, und sie waren weniger depressiv als andere. Und: Dieser Zustand hielt an, wie Nachbefragungen nach vier Jahren zeigten.

„Tiefpunkte stellen oft zentrale Überzeugungen von der Unverwundbarkeit des Selbst und der kohärenten und gutartigen Natur der Welt infrage“, schreiben die Autoren um Keith Cox. Wer solch ein Erlebnis als eine Geschichte der Bewältigung erzählen kann, hat damit wohl oft an Zutrauen gewonnen. Es sei, so die Autoren, vielleicht eine Art „autobiografisches Signal, dass man ein resilienter Mensch ist.“

DOI: 10.1111/jopy.12452

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2020: Wer bin ich noch?
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