Hüpfende Spätzlein, liebreizende Kindergesichter, leises Pfeifen. Das sind drei von zahlreichen Alltagsmomenten, die eine japanische Hofdame um das Jahr 1000 niederschrieb. Ihre Freude und Faszination an den kleinen Dingen wurde legendär: Ihr Kopfkissenbuch gilt heute als ein Klassiker der japanischen Kultur. Der Autor Ken Mogi macht seine Leser mit diesem Werk bekannt.
Mogi benutzt das Kopfkissenbuch, um seinem westlichen Publikum die japanische Lebenskunst ikigai zu vermitteln. Sein Buch, nach dem Lebenskonzept benannt, bietet nicht nur Zugang zu einer anderen Kultur – es macht den Leser auch empfänglicher für die kleinen Alltagsfreuden um ihn herum. „Ikigai lebt im Reich der kleinen Dinge“, schreibt Mogi. „Die Morgenluft, die Tasse Kaffee, der Sonnenstrahl.“ Wörtlich übersetzt bedeutet Ikigai Lebenssinn, von iki (leben) und gai (Sinn). Im Japanischen wird der Begriff allerdings für eine Fülle von Bedeutungen eingesetzt. Aber Mogi bleibt nicht vage. Der Neurowissenschaftler bietet klare Informationen, was Ikigai ausmacht.
Sich an kleinen Dingen freuen
Zu Beginn des Buches zählt er die fünf Säulen des Ikigai auf: klein anfangen, loslassen lernen, Harmonie und Nachhaltigkeit leben, die Freude an kleinen Dingen entdecken, im Hier und Jetzt sein. Schnell drängt sich die Ähnlichkeit zwischen Ikigai und dem Konzept der Achtsamkeit auf, deren Ursprünge im Buddhismus Mogi diskutiert.
Mogi verknüpft die fünf Säulen des Ikigai mit der japanischen Tradition sowie Lebens- und Denkweise. So sei es in Japan Brauch, den Tag mit etwas Süßem und grünem Tee zu beginnen – als eine der ersten kleinen Freuden des Tages. Dieser Moment des Genusses sei etwas Flüchtiges, so der Autor. Und selbst wer versucht sei, den Moment – entsprechend aktuellem Zeitgeist – auf einem Foto festzuhalten, finge den Augenblick dennoch nicht ein. „Von Geschmack kann man kein Selfie machen“, schreibt Mogi.
Negierung des Ichs
Auch andere japanische Eigenheiten bringt der Autor mit Ikigai in Verbindung. Etwa die Herstellung von Whisky. An dieser und einigen wenigen anderen Stellen des Buches scheint Mogi das Ikigai allerdings nur mit sehr viel Mühe auf japanische Kulturobjekte anwenden zu können. Diese Absätze lesen sich dann eher wie eine Werbebroschüre: „Die Whiskyproduktion in Japan ist ein überraschendes Beispiel für die grundsätzlich positive Haltung zur Arbeit. Sie wird mit Liebe gemacht, gepaart mit einer Negierung des Ichs.“
Die besondere Stärke des Autors liegt darin, seine Leser motivieren zu können. „Machen Sie Musik, wenn niemand zuhört. Malen Sie ein Bild, wenn niemand zuschaut. Schreiben Sie eine Kurzgeschichte, die niemand lesen wird. Die innere Freude und Befriedigung wird mehr als ausreichend sein, um Sie durch Ihren Alltag zu tragen.“ So gelingt Mogi am Ende, was er sich vorgenommen hat: Seine Leser erhalten eine inspirierende Einführung in die japanische Lebenskunst des Ikigai.
Ken Mogi: Ikigai. Die japanische Lebenskunst. Aus dem Englischen von Sofia Blind. DuMont, Köln 2018, 175 S., € 20,–