Scham hat gemeinhin einen schlechten Ruf. Doch Daniel Hell, Schweizer Psychiater, Psychotherapeut und emeritierter Professor für klinische Psychiatrie, bricht eine Lanze für diesen wichtigen Affekt, der zwar immer schmerzlich, nämlich „peinlich“ ist, doch keineswegs von vornherein destruktiv oder pathologisch. Das werde Scham erst, meint Hell, wenn Scham gar nicht als solche erlebt wird, sondern Kränkung und Revanchebedürfnisse an ihre Stelle treten. Hell unterscheidet daher zwischen Kränkung mit ihren destruktiven Folgen, also Größenfantasien, Rachewünschen und so weiter, und erlebter Scham als Prozess. Diese selbstkritische Haltung führe zu einer inneren, persönlichen Wahrheit, letztlich auch einer Emanzipation von Demütigungen und ihren Verursachern.
Konsequent ist bei diesem Ansatz, den man nicht teilen muss, auch die Unterscheidung zwischen personaler und sozialer Scham. Letztere übe Anpassungsdruck aus, führe zu Stigmatisierungen bei zum Beispiel ethnischen oder religiösen Minderheiten und Menschen mit Einschränkungen. Personaler Scham liege die Kraft der Emanzipation zugrunde.
Flüssig liest sich dieses Buch, das sich an ein breites Publikum wendet, allgemeinverständlich ist und dabei anregende Ausflüge in Nachbardisziplinen wie Philosophie und Soziologie liefert. Der Autor betont die positiven, entwicklungsfördernden, sozialregulativen Funktionen der Scham. Allerdings liest sich das Werk auch deshalb so leicht, weil Verweise auf die einschlägige Schamliteratur häufig fehlen. Ein entsprechender Hinweis im Vorwort, etwa dass hierauf möglicherweise aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet wurde, nähme dem Leser das ungute Gefühl, manches bereits woanders einmal gelesen zu haben. „Sage mir, wofür du dich schämst, und ich sage dir, wer du bist“, so Daniel Hell. Nahezu wortgleich Patrick Batarilo 2013 in Die Kunst des Fremdschämens. Eine Anleitung in 10 Geschichten: „Sag mir, wofür du dich schämst, und ich sage dir, wer du bist.“ Ähnlich bei Scham „als Differenzerfahrung von Ich-Ideal und Wirklichkeit“. Es fehlt der an anderer Stelle gegebene Verweis auf das grundlegende Werk von Piers und Singer (1953), die erstmals auf die schamauslösende Diskrepanz zwischen einer Idealvorstellung der Person als Soll-Zustand und dem realisierten Ist-Zustand hinwiesen. Je größer der Unterschied zwischen Ideal und der peinlich festgestellten Wirklichkeit ist, desto größer die entstehende Scham.
Die enorme Bedeutung dieses Gefühls, das uns taktvoll sein lässt, die Selbstgrenzen hütet und emanzipatorische Kraft besitzt, so man denn Scham zulässt und erträgt, zeigt Hell theoretisch wie praktisch an vielen Beispielen einleuchtend auf. Bei den zahlreichen und für die einschlägige Schamliteratur ungewöhnlichen Ausflügen in Philosophie und Soziologie erfahren wir demgegenüber, woher der Autor seine sehr anregenden Gedanken nimmt.
"Nur wer sich achtet, kann sich schämen" – dieser Gedanke ist umstritten
Der Untertitel des Buches – Nur wer sich achtet, kann sich schämen – irritiert: Tatsächlich versinken ja gerade Menschen in Scham, die sich selbst verachten wegen vermeintlicher Makel, Defizite oder angeblicher Unfähigkeit: So ist Scham der zentrale Affekt der sozialen Phobie, die besonders in ihrer generalisierten Subform zu totalem sozialem Rückzug und einer Form der sozialen Behinderung führt. Traumatisierte Opfer von Missbrauch oder Gewalt verachten und schämen sich häufig, weil es gerade sie traf, just sie die Katastrophen nicht verhindern konnten. Es darf bezweifelt werden, ob sich dieser Widerspruch allein durch die Unterscheidung von personaler Scham und Kränkung auflösen lässt.
Hell hat ein lesenswertes Buch geschrieben, das allerdings auch immer mal wieder mit Ungenauigkeiten oder überkommenen Antiquitäten der Entwicklungspsychologie überrascht, wie etwa dem angeblich lustvollen Spiel mit Kot, das in Wahrheit jedoch nur bei sehr gestörten Kindern vorkommt, oder der Behauptung, es sei unbestritten, dass Schuld die Fähigkeit zu Scham voraussetze. Wer damit leben kann, dem sei das Buch empfohlen.
Daniel Hell: Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen. Psychosozial, Gießen 2018, 248 S., € 24,90