Was bewegt Wladimir Putin, die Ukraine zu überfallen, und warum folgen ihm große Teile des russischen Volkes? Wie konnte es bar jeder Vernunft zum Brexit kommen? Und was lässt so viele amerikanische Wähler und Wählerinnen für einen Donald Trump stimmen? Einige Politikwissenschaftler und Soziologinnen haben die Erfolge von Populisten, Autokraten und Verschwörungstheoretikerinnen erklärt. In seinem neuen Buch Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit sammelt Hans-Jürgen Wirth zahlreiche dieser Ansätze – um dann einen Schritt weiterzugehen.
Wirth, Gießener Psychoanalytiker, langjähriger Psychotherapeut, Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt, beleuchtet das scheinbar Unerklärliche mit fundiertem Wissen über die Psyche aus eigenem Fundus und weiteren Quellen der Psychoanalyse und Psychologie.
Da schreibt niemand, der mit einer plakativen These donnernd in die Talkshows drängt. Vielmehr bringt der Autor, Jahrgang 1951, Erkenntnisse aus seinem langen Therapeuten- und Forscherleben an Stellen ein, wo die Politikwissenschaft und Soziologie nicht so recht weiterwissen. Viele kleine Erkenntnisblitze bringen so insgesamt mehr Licht in die Mechanismen der Macht.
Ausgangspunkt für Machtkämpfe: Emotionen
Bevor Hans-Jürgen Wirth den Brexit, die Verschwörungsdiskussionen der Coronakrise, den Ukrainekrieg neu erklärt, noch ehe er die Welt- und Menschenbilder von AfD und Grünen untersucht und ein neues Bewusstsein der menschlichen Verletzlichkeit anmahnt, liefert er eine Analyse elementarer Gefühle, welche die Politik mitbestimmen: Angst, Hass, Scham, Neid, Ekel, Verbitterung und Ressentiments.
Dieses erste Kapitel ist vielleicht das wertvollste und zeitloseste des ganzen Buchs, gibt es doch Leserinnen und Lesern Werkzeuge in die Hand, das Wirken von Gefühlen bei sich selbst und anderen zu sehen. Erkennbar wird so, warum Emotionen auf der einen Seite das Handeln motivieren, Beziehung und Nähe zu anderen Menschen erst ermöglichen und erlauben, sich von feindlichen Gruppen abzugrenzen – auf der anderen Seite aber auch, welch großes Unheil Wut, blinder Hass, Neid, Verbitterung und Rachegelüste anrichten.
Als nur ein Beispiel für die enorme Fülle der Untersuchungen im Buch sei hier der Hass gewählt. Ursächlich „ist in aller Regel eine lange Vorgeschichte von Demütigungen, Erniedrigungen, Entwertungen und anderen Formen der narzisstischen Kränkung, die die oder der Hassende objektiv oder in einem subjektiven Erleben erfahren hat“. Wer verächtlich behandelt, lächerlich gemacht oder entwertet werde, verliere einen Teil der Fähigkeit, eigene aggressive Affekte zu regulieren.
Die Verletzlichkeit des Menschen
Wirth sieht dies in der Psyche von Wladimir Putin und in den Gefühlen des russischen Volkes nach dem von vielen als narzisstische Kränkung erlebten Ende der Sowjetunion. Ohne Putin auch nur ansatzweise in Schutz nehmen zu wollen, zeigt der Autor auf zwei „äußerst fahrlässige“, weil demütigende, Äußerungen amerikanischer Präsidenten: die von George H. W. Bush 1992 vor dem amerikanischen Kongress, die USA hätten den Kalten Krieg „gewonnen“, und Barack Obamas „verächtliche Bemerkung, Russland sei keine Groß-, sondern nur eine Regionalmacht“ vom März 2014.
Letztere Erniedrigung kam allerdings – Wirth erwähnt dies nicht – erst nach der Entscheidung Putins, die Krim zu annektieren, kann also nicht für die Besetzung der Krim ursächlich gewesen sein. Wohl aber ging Obamas Entgleisung dem Eingreifen in Syrien 2015 voraus und damit der Rückkehr Russlands auf die militärische Weltbühne, wie auch allen weiteren Eskalationen. Wirth schürft dann tiefer, indem er Freuds „Wiederholungszwang“ auf den Krieg gegen die Ukraine anwendet und schreibt: „Wenn die traumatische Erfahrung darin besteht, gedemütigt und erniedrigt worden zu sein, kann die Erlösungsfantasie darin liegen, dieses Mal über alle bösen Mächte zu triumphieren und den früheren Peiniger oder eine Stellvertreterfigur zu vernichten.“
Der Autor sieht Chancen, die weltweite Krise, zu der selbstredend auch die Klimakatastrophe und andere Brandherde gehören, für die Menschheit zu nutzen und das künftige Zusammenleben zu verbessern. Die Grundlage dafür könne die tiefgreifende Erfahrung der Verletzlichkeit des Menschen sein. Würde diese besser gesehen, könnte dies zu mehr kollektiver Verantwortung füreinander führen.
Hans-Jürgen Wirth: Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit. Psychosozial, Gießen 2022, 336 S., € 39,90