„Das Positive am Neid wird oft übersehen.“

Neid ist nicht rein böse. Er hilft uns, unsere Moral zu schärfen. Neidisch zu sein, hat zu Unrecht ein schlechtes Image; das stört Hans-Jürgen Wirth.

Die Illustration zeigt den Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth, der findet, dass das Positive am Neid oft übersehen wird
Hans-Jürgen Wirth ist Psychoanalytiker und Psychologischer Psychotherapeut. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Im biblischen Buch Genesis werden zwei Geschichten erzählt, in denen Neid im Zentrum steht: In der einen geht es um die Schlange, die Eva verführt, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Die Schlange ist neidisch auf die Allwissenheit Gottes. Hier ist eine Hybris beschrieben, eine Anmaßung, die in dem Wunsch liegt, Gott gleich zu sein. Sie zeigt die narzisstische Komponente des Neides: Wer das Gefühl hat, zu kurz zu kommen, nicht zu bekommen, was ihr oder ihm eigentlich zusteht, ist deshalb narzisstisch gekränkt. Das kann uns wütend und feindselig machen.

Die zweite biblische Geschichte ist die von Kain und Abel: Kain erschlägt aus narzisstischer Kränkung und Neid heraus seinen Bruder Abel, den Hirten, dessen Opfer Gott bevorzugt. Das Gefühl des Neides besteht darin, dass andere etwas besitzen, was wir uns selbst sehnlichst wünschen. Deshalb hat Neid ein schlechtes Image. Aber zu Unrecht.

Wir können nicht anders als emotional reagieren

Denn dieses Gefühl hat auch gute Seiten. Es regt dazu an, Ungerechtigkeiten anzuprangern, kann den Gerechtigkeitssinn schärfen und auf diese Weise eine Grundlage des moralischen Bewusstseins bilden. Ein aufgrund des Neids verschärfter Gerechtigkeitssinn impliziert auch das Wissen, dass man sich für Fairness und Gerechtigkeit einsetzen und etwas dafür tun kann, und motiviert dazu.

Schmerzhafte Gefühle von Ungerechtigkeit oder durch Verluste, die wir erleiden (und andere nicht) und an denen wir nichts ändern können, müssen nicht zwingend zu Feindseligkeit führen, sondern können, wenn sie psychisch verarbeitet werden, auch dazu motivieren, sich für mehr Gerechtigkeit zu engagieren. Auch kann Neid ein starkes Motiv sein, sich anzustrengen und es dem anderen gleichzutun. In diesem Fall spornt Neid zu Leistungssteigerungen an. Entscheidend für die Wirkung von Neid ist auch hier, wie er psychisch ver­arbeitet wird.

Wir sollten uns unseren Neidgefühlen nicht ausliefern, sie wuchern lassen, bis sie sich in Verbitterung und Ressentiments niederschlagen. Vielmehr gilt es, sie wahrzunehmen und zu prüfen, was sie uns über uns selbst und unser Verhältnis zu anderen sagen, um dann konstruktiv mit ihnen umzugehen. Dann werden auch peinigende Gefühle zu einer wertvollen Ressource.

Für alle Gefühle gilt: Wir können nicht anders als emotional reagieren. Unsere Emotionen sind unserem bewussten Willen nur teilweise zugänglich. Negative Gefühle helfen allgemein, sich gegen Übergriffigkeit, Dominanz, Ungerechtigkeit oder Vereinnahmung abzugrenzen und unsere persönlichen Außengrenzen, unsere Souveränität zu schützen. Sie sind insofern von großer Bedeutung. Und auch positive Gefühle haben eine problematische Seite, denn ein Zuviel an liebevoller Nähe kann Instrumentalisierung bedeuten.

Hans-Jürgen Wirth ist Psychoanalytiker, Psychologischer Psychotherapeut und ­außerplanmäßiger Professor für Sozial­psychologie in Frankfurt.

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