Goodbye, Mister Sacks!

Posthum erschienen Oliver Sacks kluge Essays, die von Mitarbeitern und seinem Lebensgefährten fertiggestellt wurden

Eigentlich hatten wir uns bereits von Oliver Sacks verabschiedet. Wer die Bestseller des Neurologen in guter Erinnerung hat, der musste schon beim Lesen seiner Autobiografie einige Male schlucken, denn in dieser sagte er der Welt goodbye. Sacks hatte während des Schreibens erfahren, dass der Krebs, der ihn neun Jahre in Ruhe gelassen hatte, zurückgekommen war. Im Angesicht des Todes schrieb er manches um – ohne jede Bitterkeit. Kaum war das Buch auf dem Markt, starb er 82-jährig im August 2015.

Posthum erschien nun ein Buch, das Sacks in seinen letzten Monaten begonnen hatte, wohlwissend, dass er dessen Erscheinen nicht mehr erleben würde. Mitarbeiter und sein Lebensgefährte haben das zum Teil Diktierte fertiggestellt. Der Band versammelt zehn Essays, in denen Sacks einen Teppich aus Neurowissenschaft, Psychologie, Medizin, Evolution, ja sogar Botanik webt – stets darauf aus, die Fäden der Bewusstseinsforschung hell leuchten zu lassen. Manche seiner berühmt gewordenen „Fälle“, etwa jener Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, seine Inselbegabten, die Touretter, Autisten, Parkinson- und Migränegeplagten tauchen noch einmal auf. Doch vor allem verleihen seine akademischen Vorbilder dem Webmuster die schönsten Farben: Sigmund Freud, Charles Darwin und William James, der Begründer der amerikanischen Psychologie. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass Sacks seine Lehrer liebt und bewundert.

Das Unbewusste: der Ursprung aller Kreativität

Auf der Suche nach den Anfängen von Empfindungen und Gedächtnisleistungen, denkt Sacks über Quallen nach, die rund tausend Nervenzellen haben, berichtet von Harold Pinter, der wie jeder Mensch hundert Milliarden davon hat, oder betrachtet Orchideen, die zwar gar keine Nervenzellen haben, aber dennoch elektrisch reizbar sind und Signale übertragen.

Bei Pinter geht es Sacks um das „schöpferische Selbst“, er sah in ihm beispielhaft die Fähigkeit, Themen eine angemessene Inkubationszeit zu geben. Diese Ausführungen zur menschlichen Kreativität sind mit das Schönste im ganzen Buch. Sacks beschreibt, wie Gedanken und Stoffe ins Unbewusste absinken müssen, wo sie sich mit anderen Erfahrungen und Gedanken vermischen, um eines Tages transformiert wieder an die Oberfläche zu kommen.

Erhellend sind auch die Gedanken zu Sigmund Freud. Seiner Zeit weit voraus, begriff Freud unser Gedächtnis als dynamischen Prozess, bei dem ständig Umbauten stattfinden, und prägte dafür den Begriff der „Nachträglichkeit“.

In diesem Buch gibt es Schönes und Unfertiges, Tiefgründiges und Unausgegorenes. Man liest auch Sätze, die Sacks so nicht geschrieben hätte. „Macht nichts“, ist man versucht, dem Mann hinterherzurufen, der glücklich war, mit einer Blume verwandt zu sein. Trotz seiner Genese wurde es ein kluges und lehrreiches Buch – mancher seiner Fans wird es als Gnadenfrist empfinden, noch einmal etwas von ihm lesen zu können.

Oliver Sacks: Der Strom des Bewusstseins. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt, Reinbek 2017, 253 S., € 22,–

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