Schlafen wir heute anders als früher?

Im Interview spricht die Kulturwissenschaftlerin Karoline Walter über ihr neues Buch und die Veränderungen im Schlafverhalten.

Die Illustration zeigt Karoline Walter, die Autorin des Buches "Guten Abend, gute Nacht"
Die Kulturwissenschaftlerin hat sich mit dem Schlaf beschäftigt. © Jan Rieckhoff

Frau Walter, wie hat sich unser Verhältnis zum Schlaf über die Jahrhunderte verändert?

In vorindustrieller Zeit waren die Winternächte lang und dunkel, entsprechend ging man früher zu Bett und brauchte wohl auch länger zum Einschlafen. Viele Menschen schliefen außerdem in zwei Abschnitten – sie erwachten nach etwa vier Stunden, waren dann für zwei oder drei Stunden wach und begaben sich anschließend wieder zu Bett.

Weder lange Einschlafzeiten noch nächtliche Wachphasen wurden damals als Störung empfunden. Während der heißen Sommermonate legte man mittags oft ein Nickerchen ein. Die meisten Menschen arbeiteten körperlich und auf freiem Feld, was bei sengender Hitze kaum möglich war.

Wenn es darum geht, Kinder zum Einschlafen zu bewegen, halten Eltern in vielen Ländern bis in den Schlaf hinein Köperkontakt mit ihrem Baby. Hierzulande warnt man historisch eher vor kindlich-elterlichem „Co-Sleeping“. Warum?

Die Begründungen haben sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert, was die ideologische Schlagseite der ganzen Debatte deutlich macht. Im Mittelalter glaubte man, Mütter könnten die Gelegenheit zur heimlichen Kindstötung nutzen. Im 19. Jahrhundert wurden gegen das gemeinsame Nächtigen von Kindern und Eltern einerseits hygienische Gründe ins Feld geführt, andererseits warnte man davor, Kinder auf diese Weise „zu verzärteln“.

Im 20. Jahrhundert befürchtete man, Eltern könnten ihre Kinder beim „Co-Sleeping“ sexuell missbrauchen. Heute warnt man davor, weil es das Risiko für den plötzlichen Kindstod erhöhe, wenn Eltern ihre Babys mit ins eigene Bett nähmen – was sich aber so nicht belegen lässt.

In Asien scheint ein Nickerchen in der U-Bahn oder am Arbeitsplatz ganz normal. Warum tut sich der Westen so schwer mit dem Schlafen in der Öffentlichkeit?

Einerseits sind ostasiatische Gesellschaften wie China und Japan von ähnlichen Werten geprägt wie westliche Länder: In beiden Kulturkreisen herrscht ein stark ausgeprägtes Arbeitsethos vor. Während aber im Westen als faul gilt, wer tagsüber sichtbar schläft, geht man in Japan eher davon aus, dass sich derjenige zuvor beim Arbeiten oder beim Lernen verausgabt hat. Tatsächlich schläft man in Japan auch insgesamt weniger als in westlichen Ländern.

In westlichen Gesellschaften haben sich außerdem im Laufe der Zeit bürgerliche Vorstellungen von Privatsphäre durchgesetzt, die bestimmten Tätigkeiten einen spezifischen, abgegrenzten Raum zuweisen – für Schlaf und Sexualität ist das Schlafzimmer vorgesehen. In der Kollektivgesellschaft Japan hingegen bewohnt man traditionell eher Multifunktionsräume, die man mit mehreren Personen teilt – schon aus Gründen des allgemein vorherrschenden Platzmangels.

Die Anhänger des polyphasischen Schlafes vertreten die Auffassung, dass man lieber in über den Tag und die Nacht verteilten kurzen Blöcken schlafen sollte. Ist dieser Trend zur Leistungssteigerung historisch betrachtet ein neues Phänomen?

In dieser Form wahrscheinlich schon. Zwar schlief man in der Vormoderne wohl in zwei Blöcken, aber eben nur in zwei. Die Gesamtschlafmenge war dadurch nicht reduziert, was beim polyphasischen Schlafen aber in der Regel das Ziel ist – eben um mehr Zeit zum Aktivsein zu haben. Viele Arbeitsabläufe waren früher gemeinschaftlich organisiert und von Naturrhythmen abhängig, etwa den biologischen Rhythmen von Nutztieren.

Für eine solche Arbeitswelt wären künstlich über den Tag verteilte Schlaf- und Wachphasen wenig praktikabel gewesen. Anhänger des polyphasischen Schlafens berufen sich oft auf historische Vorbilder. So sollen etwa Winston Churchill, Napoleon und Salvador Dalí auch polyphasische Schläfer gewesen sein, was sich aber natürlich schwer rekonstruieren lässt.

Karoline Walter hat Kulturwissenschaften studiert und arbeitet als freie Autorin und Lektorin

Karoline Walters Buch Guten Abend, gute Nacht. Eine kleine Kulturgeschichte des Schlafs ist bei Hirzel erschienen (214 S., € 22,90)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2020: Mein wunder Punkt
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