Frau Unger, was verstehen Sie unter einem Mikrotrauma?
Ein Mikrotrauma kann entstehen, wenn Menschen über längere Zeit immer wieder Beschämungen, Herabwürdigungen, Entwertungen, emotionalen Missbrauch, Beschimpfungen, Beleidigungen, Isolierung oder Bedrohungen erleben. Mikroverletzungen wie diese können, wenn sie hin und wieder vorkommen, von den meisten Menschen überwunden werden. Treten sie jedoch wiederholt auf und gehen von einem Menschen aus, von dem sich Betroffene aus den unterschiedlichsten Gründen abhängig fühlen, entstehen oft starke Ohnmachts- und Bedrohungsgefühle.
In solchen Beziehungen können Betroffene den Eindruck gewinnen, nicht mehr sicher zu sein und keine Kontrolle mehr zu besitzen. Unter solchen Umständen kann chronischer Stress entstehen. Das stört unsere emotionalen Funktionen wie zum Beispiel die Verarbeitung von belastenden Erlebnissen. Auf diese Weise können sich psychische Störungen entwickeln.
Von einem Mikrotrauma spreche ich jedoch nur dann, wenn die Auslöser einer psychischen Störung in einem mikroverletzenden Umfeld zu finden sind und die Erkrankung nicht durch andere innere oder äußere Faktoren zu erklären ist. Beispielsweise wenn ein Mensch bislang ein gesundes und zufriedenstellendes Leben geführt hat und scheinbar plötzlich unter traumaassoziierten Symptomen leidet, die aufgrund einer als ausweglos erlebten Mobbingsituation entstanden sind. So zeigen Mobbingopfer beispielsweise nicht selten Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, teilweise gar das Vollbild.
Verharmlost dieses Konzept nicht das Leid tatsächlich traumatisierter Menschen?
Das liegt mir natürlich fern. Über den Begriff „Mikrotrauma“ lässt sich sicherlich diskutieren. Klar ist aber auch, dass nicht das Ereignis an sich einen Menschen traumatisiert, sondern wie ein Mensch dieses bewertet. Welches Ereignis eine intensive Stressreaktion auslöst, ist zu einem Teil davon abhängig, was einen Menschen tiefgreifend zu verletzen vermag.
Studien zu Traumafolgestörungen zeigen, dass insbesondere zwischenmenschliche Verletzungen das Potenzial haben, unter bestimmten Umständen intensiven Stress mit entsprechenden psychischen Beschwerden zu verursachen. Das ist vor allem bezüglich körperlicher Misshandlungen gut belegt, aber eben auch zunehmend für psychische Verletzungen. In der Leitlinie für die posttraumatische Belastungsstörung, die PTBS, heißt es beispielsweise, dass auch „weniger einschneidende Ereignisse“ dazu führen können, dass Menschen das symptomatische Vollbild einer PTBS entwickeln. Das ist sicher nicht die Regel und hat nicht nur mit einer äußeren Situation zu tun, sondern auch mit der inneren Struktur eines Menschen.
Welche Übungen haben sich in Ihrer praktischen Arbeit mit Betroffenen als besonders hilfreich zur Überwindung von „kleinen Traumata“ erwiesen?
Bei Traumafolgestörungen kommt es häufiger zu einem beständigen Erleben von Bedrohung, das mit innerer Unruhe und Nervosität bis hin zur Panik einhergeht. Deshalb sind zunächst Übungen hilfreich, die zur Stabilisierung der emotionalen Funktionen beitragen. Grob geht es darum, wieder Sicherheit aus sich selbst heraus zu empfinden, indem beispielsweise die eigenen Grenzen wieder verteidigt werden können. Ebenso wichtig ist es, zu lernen, Unsicherheits- und Ohnmachtsgefühle ein Stück weit zu tolerieren und das Selbstwertgefühl aus sich selbst heraus zu mobilisieren. Damit bleibt man handlungsfähig und kann entscheiden, wie man mit einer solch verletzenden Beziehung umgehen möchte.
Sonja Unger, Diplompsychologin, ist in eigener Praxis als Psychologische Psychotherapeutin tätig.
Sonja Ungers Buch Mikrotrauma. Wenn kleine seelische Verletzungen krank machen ist bei humboldt erschienen (240 S., € 22,–)
In unserer Ausgabe 10/2024 haben wir unter dem Titel „Die Banalisierung des Traumas“ (Seite 84–85) in einer Doppelrezension zwei Mikrotrauma-Bücher rezensiert, darunter das Buch von Sonja Unger. Dabei haben wir Inhalte und Zitate falsch zugeordnet und das Buch verkürzt dargestellt. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen