Die Banalisierung des Traumas

Zwei Bücher widmen sich dem Thema „Mikrotraumata“. Verharmlost dieses Konzept das Leid tatsächlich traumatisierter Menschen?

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 10/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezesionen aus der Oktoberausgabe. © Psychologie Heute

In dem Maße, wie der Traumabegriff unter den psychologisch interessierten Menschen und in der Öffentlichkeit bekannter wird, wird er auch verwässert. Die Erweiterung des Traumaverständnisses begann in den 1990er Jahren mit Francine Shapiro, die 1989 die Methode eye movement desensitization and reprocessing erfand, die inzwischen weltweit in der Traumabehandlung eingesetzt wird. 1989 hatte sie auch den Begriff small-t trauma für kleine Traumata eingeführt.

Von genau solchen „kleinen Traumata“ handelt auch das Buch Mikrotrauma. Wenn kleine Verletzungen krank machen der Diplompsychologin Sonja Unger. Sie fasst den Traumabegriff extrem weit: „Ich würde […] generell sagen, dass es eine Form des kleinen Traumas ist, wenn Sie ein Erlebnis hatten, das Sie mit einem Gefühl des Unwohlseins erfüllt und das Sie für nicht wichtig genug halten, um sich Unterstützung zu holen.“ Ein solches Gefühl des Unwohlseins kann alles sein, was Menschen stört oder belästigt. Warum man dies dann nicht Unwohlsein oder Störung nennt, bleibt unerklärt und unerklärlich.

Wenn der Traumabegriff so banalisiert wird, lesen sich fast zwangsläufig auch die Empfehlungen der Autorin wie eine Ansammlung von Banalitäten: Kleine Traumata und deren Folgen könnten etwa dadurch geheilt werden, dass man täglich 10000 Schritte läuft und „Aber“-Sätze vermeidet, sich gesund ernährt, sich ausruht, dankbar ist und so weiter.

Kleine Wunden

Das Buch der britischen Psychologin Meg Arroll Wenn sich nichts richtig anfühlt. Die große Wirkung kleiner Traumata und wie wir sie überwinden ist gehaltvoller. Sie präsentiert zahlreiche Fallbeschreibungen und leitet aus ihnen Empfehlungen zum Umgang mit den Folgen ab. Auch für sie bestehen „kleine Traumata“ aus einem Sammelsurium belastender Erfahrungen, von Ängsten über Gewichtszunahme und Scheidungen bis hin zu mangelndem Selbstvertrauen.

Beide Autorinnen betonen, dass auch kleine Verletzungen schmerzliche und nachhaltige Folgen haben können. Das ist richtig und entspricht therapeutischem Erleben und der Lebenserfahrung. Doch muss deshalb jede Verletzung als „Trauma“ bezeichnet werden?

Das Wort „Trauma“ entstammt dem Altgriechischen und bedeutet übersetzt „Wunde“. Doch nicht jede Wunde ist ein Trauma. Weithin anerkannt ist die Definition des Psychotherapeuten Gott­fried Fischer und des Psychiaters Peter Riedesser, auf die sich auch die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie beruft. Demnach ist ein Trauma „ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten“. Zu einem Trauma gehören insbesondere drei Elemente: Zum einen müssen Menschen ein Ereignis als existenziell bedrohlich erleben. Zum anderen muss diese Erfahrung ihre aktuellen Bewältigungsmöglichkeiten übersteigen und schließlich muss sie nachhaltige Folgen haben.

Diejenigen, die den Traumabegriff auf Mikrotraumata und „kleine Traumata“ erweitern, berauben ihn seiner Besonderheit, vor allem des Umstands, dass eine traumatisierende Erfahrung als existenziell bedrohlich erlebt wird. Viele traumatisierte Menschen fühlen sich „aus der Welt gefallen“, „in einen Abgrund gestoßen“ und „in der Existenz erschüttert“. Der Anlass, also das Traumaereignis kann sich dabei unterscheiden: etwa Krieg, sexuelle Gewalt oder Vertreibung. Die traumatisierende Wirkung ist das, was die Besonderheit des Traumas ausmacht.

Nicht jedes Unwohlsein ist Trauma

Diese Besonderheit wird banalisiert, wenn der Traumabegriff inflationär gebraucht wird, wenn jede Verletzung, jede Kränkung, jedes „Unwohlsein“ mit ihm belegt wird. Er wird dann letzten Endes beliebig, ganz gleich ob von Mikrotraumata, Small-t-Traumata oder Bindungstraumata die Rede ist.

Ein ähnliches Schicksal widerfuhr dem Begriff der Hysterie. Ursprünglich galt er als Bezeichnung für bestimmte körperliche Ausdrucksformen von vor allem bei Frauen auftretenden neurologischen Störungen (das Wort hysteria hieß ursprünglich „Gebärmutter“). Anschließend wurde der Hysteriebegriff so verballhornt, dass daraus eine Bezeichnung für (weibliche) Erregungszustände wurde. Als Allerweltsbezeichnung verlor er jede diagnostische Bedeutung und wird heute nicht mehr außerhalb von Woody-Allen-Filmen verwendet.

Ein ähnliches Schicksal kann dem Traumabegriff ebenfalls drohen. Das wäre schädlich, und zwar aus zwei Gründen: Erstens existiert mit den Bezeichnungen „Trauma“ oder „Psychotrauma“ ein diagnostisches Handwerkszeug, das professionellen und anderen Beteiligten erlaubt, die besondere Qualität einer traumatischen Erfahrung und ihrer Folgen zu beschreiben. Das ist wichtig, um daraus Hilfestellungen abzuleiten.

Zweitens würdigt das Traumaverständnis die besonderen existenziell bedrohlichen Erfahrungen der traumatisierten Menschen. Wird jede kleine Verletzung, die Folgen hat, wird jedes „Unwohlsein“ mit dem Traumabegriff belegt, werden die traumatischen Erfahrungen der betroffenen traumatisierten Menschen verharmlost. Das mag bestimmt nicht in der Absicht der Autorinnen liegen, ist aber eine Wirkung auf viele Betroffene. Wer eine Katastrophe erlebt hat, bei der es um die körperliche, seelische und soziale Existenz geht, um das Überleben, wird jede Gleichsetzung mit „Unwohlsein“ und anderen kleinen Verletzungen als entwürdigend empfinden.

Meg Arroll: Wenn sich nichts richtig anfühlt. Die große Wirkung kleiner Traumata und wie wir sie überwinden. Aus dem Englischen von Gabriele Lichtner. Goldmann 2024, 336 S., € 18,–

Artikel zum Thema
Gesundheit
Trauma: Ein Terroranschlag oder Unfall hinterlässt oft auch psychische Verletzungen. Was genau ist ein Trauma und wie lässt sich eine PTBS therapieren?
Gesellschaft
„Trauma“ ist immer häufiger Gegenstand gesellschaftlicher Debatten. Die Gefahr: Das könnte zu einer Verharmlosung wirklicher Traumata führen.
Gesundheit
Neue Studien haben untersucht, ob sich Rauchen auf die geistige Gesundheit auswirkt.
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2024: Bin ich gestresst oder habe ich ADHS?
Anzeige
Psychologie Heute Compact 78: Was gegen Angst hilft